Buch und Ausstellung „Heiter bis wolkig“: Deutsche Wirklichkeit
Das Fotografen-Trio Hansen, Stolzenwald & Werner ist durch die Republik gereist. Seine Bilderflut „Heiter bis wolkig“ ist derzeit in Hamburg zu sehen.
Arme Angela Merkel. Steht da auf der Bühne, vor Publikum, und wünscht sich vermutlich an einen anderen Ort; einen mit Bedeutung, mit Spirit, mit Gewicht. Aber auch ein Wahlkampfauftritt in der tiefsten niedersächsischen Provinz muss nun mal absolviert werden und so zeigt sich die Kanzlerin dann doch unschlagbar souverän, wenn sie aus dem Korb, der sie als „Emsmädel“ ausgibt, eine kleine, zierliche Möhre holt und sie dem Publikum hinhält.
Aufgenommen hat das Bild das Trio Hansen, Stolzenwald & Werner, das sind die Fotografen David Carreño Hansen, Sven Stolzenwald und Christian A. Werner. Kennengelernt haben sie sich im Laufe ihres Studiums der Dokumentarfotografie an der Hochschule Hannover, „Heiter bis wolkig“ war ihre gemeinsame Abschlussarbeit: eine wuchtig-visuelle Deutschland-Reise voller feinfühliger Details und galanter Nebenher-Blicke.
Es gibt sie in zwei Daseinszuständen: als Fotobuch, zu dem der Schriftsteller Frank Goosen einen einleitenden Text beigesteuert hat, und als Ausstellung, die durch die Lande tourt; derzeit ist sie zu Gast in der Freelens Galerie in Hamburg, die damit in die erhoffte Nach-Corona-Ära startet.
Wobei die Bildauswahl für jede Ausstellung immer wieder neu aus einem umfangreichen Bilderbestand zusammengewürfelt wird und so keine Ausstellung der anderen gleicht. Damit wäre man auch bei einem Wunsch der drei Fotografen; der eine ein hier heimisch gewordener Spanier, der nächste ein Ossi, der übernächste ein Wessi: dass das scheinbare Durcheinander, dass die Kombinationen aus Detail- und Übersichtsbildern die Betrachter_innen aus der Reserve locken mögen – denn wir haben keinesfalls schon alles gesehen.
Etwas anderes bleibt dagegen eindeutig und unumstößlich: „Von wem welches Bild stammt“ sei „irrelevant“, sagen Hansen, Stolzenwald & Werner. Und verzichten konsequenterweise darauf, ausgestellte und abgedruckte Bilder mit dem Namen des jeweiligen Fotografen zu kennzeichnen: Als Urheber gibt es sie nur im Trio.
Gereist sind sie so zu dritt wie in unterschiedlichen Zweierkonstellationen, waren auch mal allein unterwegs. Zusammen aber erstellten sie sowohl eine Liste erkundungswerter Orte und Landschaften wie auch eine Übersicht der unverwechselbaren Momente im Leben, an die sich ein Mensch immer wieder erinnern wolle: „Goldene Hochzeit“ und „Fahrzeugsegnung“, aber auch „Fassanstich“ und „Mett“.
Die Ostsee entlang ging es so, das Sauerland wurde erkundet, durch Brandenburg reiste man. Sah sich um in Herten, in Frankenhausen, in Hildesheim und an der längsten Kohltafel der Welt, die in Bremen aufgestellt war. Man war auf einer Haustürenausstellung in Neumünster und hat Thomas Müller als Aufsteller in Hannover getroffen. „Nur das Saarland fehlt komplett“, sagen Hansen, Stolzenwald & Werner und lachen.
Nicht zuletzt ist ihr Spiel mit den fokussierten, aber auch den beiläufigen Motiven ein Statement: gegen den einen, Wahrheit beanspruchenden Blick und gegen das ikonische Einzelbild, das – angeblich – die Welt auf den Punkt bringt. „Wir wussten, dass es eine Bilderflut braucht, dass es viele Bilder sein müssen, damit das wirkt, was wir zeigen wollen“, sagen sie. „Wenn wir jetzt eine Ausstellung über ein verlorenes Dorf in der Mongolei machen würden, wäre das anders, da kennen sich vermutlich nicht so viele aus.“
Was die drei dagegen irritiert hat, waren Kommentare und Verweise in den Sozialen Medien, die dann etwa behaupteten: „Die drei Fotografen zeigen uns Bilder aus den 60er- und 70er-Jahren.“ Das ist schon biografisch unmöglich: Carreño Hansen ist Jahrgang 1978, Stolzenwald wurde 1986 geboren, Werner 1980. Und tatsächlich wurde die Arbeit um das Jahr 2018 herum abgeschlossen, das früheste darin berücksichtigte Bild entstand 2005. Aber geht eben sehr schnell, dass etwas lange her zu sein scheint: So ungeduldig ist man mit der Gegenwart und sucht gleich das nächste Neue.
In diesem Sinne ist das Bilderangebot des Trios auch ein Bildungsangebot: Mal überlegen, sich selbst beobachtend, wie gegenwärtig unsere Gegenwart an welchen Orten tatsächlich ist. „Deutschland“, sagen die drei noch, „ist ja viel Autobahn.“ Entsprechend lohne es sich, gleich die nächste Abfahrt zu nehmen und zu schauen, was kommt, wenn man nach links oder rechts abbiegt, wo jeweils das Leben auch zu Hause ist.
Das Oktoberfest etwa haben sie in der sächsischen Kleinstadt Elster gefunden, wo man sich ebenso Mühe gibt, sich in einen soliden Bier- und Bratwurst-Rausch zu feiern wie im fernen München. Was den Mythos Neuschwanstein ausmacht, konnten sie auf dem Fußweg dorthin fotografisch bannen, ohne dass das Schloss auftauchen muss, das ohnehin jeder sofort vor Augen hat und also zu kennen meint.
Manchmal führte auch der Weg ans Ziel. Als die drei im Harz unterwegs waren, um die Walpurgisnacht einzufangen, spukte in den Hinterköpfen auch ein heute vielleicht etwas schal wirkender DDR-Witz: „Wo ist der Sozialismus zu Hause? Zwischen Elend und Sorge!“ – und sie wurden ziemlich in der Mitte der gleichnamigen, zehn Kilometer auseinander liegenden Harz-Orte auf der Kreisstraße 1353 fündig; das Ergebnis überzeugt wandfüllend.
Ordentlich angemeldet waren sie zuweilen auf ihren Reisen und Fahrten, geladen zu Presseterminen wie jenem Wahlkampfauftritt der Kanzlerin im emsländischen Lingen. Manchmal aber half auch der gute alte Zufall, etwa bei der abendlichen Feuerwehrübung südlich von Leipzig: Normalerweise zündet man auf dem offenen Feld ein paar Bretter an, löscht sie ordnungsgemäß, um danach zum Geselligen zu wechseln.
Unvermittelt wurde aus der Übung nun Ernst: Ein Sturm brach los, die Feuerwehrleute mussten von Null auf gleich ausrücken, umgefallene Bäume sichern, bergen und überhaupt nach dem Rechten sehen. Die Überraschung bei gleichzeitiger grundsolider Gelassenheit ist ihnen anzusehen, wie sie da in halber Montur stehen und in die verwandelte Welt blicken.
Ausstellung bis 12. 8., Hamburg, Freelens Galerie. „Heiter bis wolkig. Eine Deutschlandreise“, Hatje Cantz 2020, 216 S., 144 Abb., 20 Euro
Gelungen ist es Hansen, Stolzenwald & Werner, der Witz-Falle zu entgehen, die ja schnell zuschlägt, wenn man an vermeintlich abseitigen Orten die Kamera zückt, um das noch Abseitigere zu finden. Nein, diese Fotos sind nicht komisch, sondern in ihrer Komik ernst. Sie sind von einer fast widerstrebenden Zärtlichkeit getragen, zehren nicht zuletzt von einer schwer einzugestehenden Hassliebe: „Vieles in diesem Land nervt permanent“, sagen die Fotografen, „und trotzdem kommt man nicht gänzlich ohne zurecht“.
So, wie sie immer auch das Bildermachen beim Bildermachen mit reflektieren: Die Blaskapelle zieht durchs Dorf wie durchs Bild, vor einer imposanten Landschaft mit Abraumhalde, See und Industriebauten fotografiert sich unten rechts in der Ecke ein Paar neben seinem Auto, zwei Bundeswehr-Offiziere haben sich feierlich vor einem Schlachtengemälde aufgestellt und zeigen Haltung; Frank-Walter Steinmeier schaut als Bildnis auf drei Topfpflanzen und fünf Seltersflaschen und lässt sich nichts anmerken. „Wo man ist, ist es meist sehr provinziell“, sagen Hansen, Stolzenwald & Werner noch. Dem wäre hinzuzufügen: Und ist doch mitten in der Welt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!