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Der HausbesuchEr ist eine Kiezinstanz

Peter Beierlein war reich. Er hat zwei Unfälle überlebt, eine Insolvenz und eine gescheiterte Ehe. Jetzt arbeitet er in einem Kiosk in Hamburg.

Peter Beierlein im Kiosk Foto: Miguel Ferraz

Seit Peter Beierlein hinter dem Tresen eines Kiosks steht, sei er so glücklich wie nie, sagt er. „Es ist das Leben, das ich immer führen wollte.“

Draußen: Altbauten säumen die Straßen im Komponistenviertel in Hamburgs Norden. Früher lebten vor allem Arbeiter hier, jetzt ziehen Leute her, die ihren Latte mit Hafermilch trinken. Um die neue Zielgruppe zu bedienen, eröffnen neue Geschäfte, doch der Kiosk in der Beethovenstraße, von denen, die ihn kennen, die „Beethi“ genannt, ist beliebt wie eh und je. Oft ist viel los, vor allem seit Corona. An guten Tagen kommen 600 Leute vorbei. Hier arbeitet Peter Beierlein.

Drinnen: Wenige Meter vom Kiosk entfernt lebt Beierlein. Altbau, drei Zimmer, 65 Quadratmeter. „Schade, dass ich keinen Balkon habe. Sonst ist es perfekt.“ Über dem Tisch in der Wohnküche hängt ein Bild von New York. „Ich bin früher oft dort gewesen.“ Und an den Wänden viele Fotos, aus Beierleins Jugend, seiner ersten WG, von den Eltern, der Familie. Vor allem von den Kindern Kaya und Jan. Mal mit Zahnlücke, mal mit dem Bachelor-Zeugnis in der Hand.

Stammkundschaft: Manche Kioskkunden erkennt Beierlein am Schritt, „Morgen, Helmut“, grüßt er, ohne hochzuschauen. Für ein Gespräch nimmt er sich immer Zeit. „Für manche bin ich der einzige Kontakt am Tag, im Lockdown war das extrem.“ Das Wichtigste sei die Bank draußen vor der Tür. „Da erzählen die Leute mir Sachen, die würde ich mir selbst nicht erzählen.“

Abenteuerspielplatz: Beierlein wird 1961 geboren, ist das älteste von drei Kindern. Die Kindheit sei toll gewesen, die Eltern liebevoll. Besonders gern denkt er an die Zeit auf dem Mineralölwerk in Stade zurück. „Das war der supergeilste Abenteuerspielplatz der Welt.“ Weil der Vater als Vertriebler dort arbeitet, bekommt die Familie eine Werkswohnung mit Garten auf dem Gelände. „Wir hatten nicht viel Geld, mein Vater hat 800 Mark verdient. Da war das Haus wie ein Sechser im Lotto.“ Im Mineralölwerk werden auch Seife, Waschpulver und Schuhcreme hergestellt. „Die Lagerhallen, die Tanks, da waren wir zuhause, ich habe auf dem Schornstein des Heizwerks gesessen. Das war Freiheit.“

Babyboomer: Ende der 60er wechselt der Vater den Job, die Familie zieht in eine Neubausiedlung. Dort gibt es eine Zentralheizung, Beierlein bekommt ein eigenes Zimmer. Er geht auf ein Jungengymnasium und macht Leistungssport. „Ich habe ziemlich hoch Handball gespielt, war immer bei Jugend trainiert für Olympia dabei.“ Er ist Teil einer Riesenclique, im Sommer im Schwimmbad sei man locker mal auf 60 Leute gekommen. „Wir sind Babyboomer, von uns gibt es viele.“ Partys, die Freunde, der Sport, die Mädchen – irgendwann bleibt die Schule auf der Strecke. Kurz vor dem Abi schmeißt er hin.

Der Unfall: Peter Beierlein beginnt in einem Hamburger Schwimmbad als Schwimmmeistergehilfe zu jobben. Jeden Morgen macht er sich um 5 Uhr auf den Weg. Einmal, die gerade lange Strecke ist leicht gefroren, verliert er auf der B 73 die Kontrolle über seinen gelben Toyota Celica. Der Wagen überschlägt sich, ein breiter Graben verhindert, dass er an einem Baum landet. „Gefühlt habe ich mich tausendmal gedreht. Ich bin rausgeklettert und habe geheult.“ Er trauert um das neue Auto; was hätte passieren können, daran denkt er nicht. „Ich habe mir dann das Nachfolgemodell gekauft, in Zitronengelb. Richtig leiden konnte ich das nicht.“

taz am wochenende

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Der zweite Unfall: Nur drei Wochen später, wieder passiert es auf dem Weg zur Arbeit, als Beierlein am Stader Burggraben auf seiner Fahrbahn ein Auto entgegenkommt, „Naht auf Naht“. Sie stoßen frontal zusammen. Die drei Insassen des anderen Fahrzeugs kommen schwer verletzt ins Krankenhaus; er steigt unverletzt aus dem Auto.

Angst: Er denkt, alles überstanden zu haben. Doch eines Samstagabends, er sitzt bei den Eltern zu Hause vor der „Sportschau“, schreckt er mit Herzrasen auf. „Ich dachte, ich sterbe.“ Die Panikattacken halten an und häufen sich. Von einem Tag auf den anderen hört er auf, Sport zu treiben, trinkt keinen Alkohol mehr. „Ich hatte Angst, dadurch einen Herzinfarkt zu bekommen.“ Auto fahren geht nicht mehr, damit ist der Job gestorben. „Das war das Ende meiner Jugend. All die Unbeschwertheit, auf einen Schlag weg.“ Da ist Beierlein gerade erst 19.

Beklemmungen: Zwei Jahre geht das so. „Ich weiß nicht, wie viele Ärzte ich besucht habe. Die haben mir Tranquilizer gegeben. Aber diese schreckliche Angst blieb.“ Eine Kur in der Nähe von Ulm hilft Beierlein schließlich. „Da waren Leute, denen es so ging wie mir und ich hatte einen tollen Psychologen.“ Leichte Anfälle bleiben, aber er lernt, damit umzugehen. Er fasst sich ans Herz „Bis 2002 ist das immer wieder passiert, diese Beklemmungen in Stresssituationen.“

Zurück: Mitte der 1980er findet er wieder Anschluss bei alten Freunden. Viele von ihnen sind nun in Hamburg, wo die wilden Partys sind und das Leben pulsiert. Peter Beierlein will auch dorthin, doch ihm fehlt ein Plan. „Schule war ja schon ein Krampf; Studieren wäre nichts für mich gewesen.“ Er kauft sich ein Abendblatt, schlägt die Jobseite auf und lässt mit geschlossenen Augen den Finger kreisen. „Da wo ich lande, das mache ich.“ Es wurde EDV. Beierlein zieht in die Schanze und beginnt eine Ausbildung als Datenverarbeitungskaufmann. „Das hat mich von der ersten Sekunde an fasziniert, irgendwie habe ich das direkt begriffen.“

David Bowie und sein Sohn Jan, der ein Unternehmen in Berlin hat Foto: Miguel Ferraz

Geschäfte: Er lernt auf den großen Rechnern, noch bevor die PCs in deutschen Firmen Einzug halten. „Ich habe mich total für die Vernetzung interessiert. Darauf war damals noch niemand spezialisiert. Plötzlich war ich der Spezialist.“ Beierlein berät Riesen wie Springer, Conti, BMW, VW und die Deutsche Bank.

Aufstieg: Er macht sich als Netzwerkspezialist selbstständig. Bald hat er 20 Angestellte und fährt schnelle Autos. Mit seiner Frau Kathy und den beiden Kindern lebt er auf 165 Quadratmetern in einer Jugendstilvilla. „Wir hatten so viel Geld, dass wir es gar nicht ausgeben konnten. Klar war das ein geiles Leben, weltweit arbeiten, Anzug, Cabrio.“ Doch mit dem Beginn der Finanzkrise 2007 ist er bereits in Sorge. „Hoffentlich schwappt das nicht zu uns rüber, habe ich mir gedacht.“

Crash: 2009 ist es dann so weit, die Hausbank fordert ihn auf, seine Konten auszugleichen. Kurz kann sich die Firma noch einmal berappeln, aber dann werden auf einen Schlag alle Aufträge aus Russland und Osteuropa storniert. „Ich habe ein halbes Jahr gebraucht, um der Realität ins Auge zu blicken und dann Insolvenz angemeldet.“

Neustart: Schon 2002 hatte sich seine Frau von Beierlein getrennt. Er bleibt in der Nähe wohnen, engagiert sich in der Schule der Kinder und im Fußballverein des Sohnes als Jugendtrainer. „Dieses Netz hat mir nach der Insolvenz unheimlich geholfen.“ 2013 fragt ihn ein Bekannter aus dem Verein, ob er sich vorstellen könnte, halbtags in der „Beethi“ auszuhelfen. Dem Pächter gehe es gesundheitlich nicht gut, und wenn der Kiosk nicht jeden Tag mindestens fünf Stunden geöffnet sei, gingen die Post- und Lottolizenz verloren. Beierlein willigt ein, interimsmäßig, und findet seine Berufung. Ob er Zigaretten oder Computer verkaufe, das sei egal, auch das Geld reiche ihm. „Hier bin ich mittendrin.“ Der Betreiber wechselt, er bleibt.

Dankbarkeit: Sein Sohn lebt in Berlin, die Tochter in London; das Verhältnis zu beiden ist eng. Auch Peter Beierleins Ex-Frau ist für ihn immer noch Familie. „Manchmal sehen wir uns fast täglich.“ Mit dem neuen Partner hat sie zwei weitere Kinder bekommen. Dann und wann besucht er mit ihnen den großen Bruder. Jetzt freut er sich auf ein paar Tage Zelten im Emsland mit einem Freund, er hat mit dem Segelschein angefangen. Und zum 60. Geburtstag haben die Kinder ihm eine gemeinsame Kalifornien-Reise geschenkt. „Ich bin an vielen Tagen glücklich, aber an wirklich allen bin ich zufrieden.“

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