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Zuschauerzahl in EM-StadienLondon calling

Zu den Finalspielen dürfen jeweils 60.000 Zuschauer ins Wembley-Stadion. Darf das denn wirklich wahr sein? Ein Pro und Contra.

Fans verlassen das Wembleystadion nach der Partie England gegen Schottland Foto: PA Images/imago

Pro

Deutschland tut diese EM hoffentlich gut, und das nicht nur im sportlichen Sinne. Sie eröffnet im Land des Vorsorgeprinzips und der übersteigerten Aerosolangst neue Perspektiven. Millionen an den Geräten sehen fast volle Stadien in Budapest, Kopenhagen und bald schon in London. Sie sehen eine Inszenierung von Fußball wie vor Corona, also mit Fangesängen, Bierduschen und Umarmungen auf den Tribünen.

Diese Bilder sind wichtig, denn sie weisen idealerweise jenen, die sich von der politischen Virologie der Bundesregierung und deren Multiplikatoren haben über Gebühr ängstigen und einschüchtern lassen, eine Via Regia ins Land der Normalität – und eines Alltags, wie er uns vor Corona geläufig war: Gemeint ist ein Leben ohne Einschränkungen von Freiheiten und eine Beschneidung von Bürgerrechten, über deren Sinnhaftigkeit und Verhältnismäßigkeit man wahrlich streiten kann.

Nun ist es zu spät dafür, aber die Lage ist an mehreren Fronten – Auslastung der Intensivstationen, Inzidenzwerte, Todesfälle, Impffortschritt, Antikörperprävalenz – entspannt, währenddessen sich das Räderwerk der Mahner, Warner und Modellierer in den Varianten Delta und wohl bald schon Epsilon, Kappa und Lambda weiterdreht, als sei nichts geschehen. Aufgabe der Politik – und warum nicht auch der Sportpolitik – ist es aber, Szenarien zu entwickeln und zu unterstützen, die herausführen aus dem Ausnahmezustand. Das ist essenziell und geboten, doch gerade in Deutschland hat man sich in einen hygienischen Status quo verguckt, will nicht davon abkommen, sondern darin partout verharren.

In diesem Klima der Halsstarrigkeit, ja der verweigerten Realitätsanpassung verwundert es natürlich nicht, wenn Journalisten in ARD, ZDF, DLF und überhaupt sehr vielen Zeitungen beim Anblick der vollen Stadion im eingeübten Reiz-Reaktions-Schema der Pandemiebeurteilung reagieren: Gesprochen und geschrieben wird dann von „Verantwortungslosigkeit“, die Sprecher bekommen „ein ganz mulmiges Gefühl beim Anblick der Ränge“, und sie orakeln: „In zwei Wochen könnte es dann zum großen Knall kommen“; übersetzt heißt das: Sie halten das für ein Superspreader-Event, eine Gefahr für die Volksgesundheit, und in 14 Tagen gehen die Inzidenzen extremst durch die Decke.

Sie verkennen dabei, dass es dazu schon etliche erfolgreiche Feldversuche gegeben hat, zum Beispiel in diversen US-Bundesstaaten. Gern genannt werden Florida und Texas, wo Sportevents seit Wochen mit hoher Auslastung gefahren werden. Man hat weder von den Bundesstaaten noch von den US-Sportligen NBA oder NHL gehört, dass der Schuss nach hinten losgegangen ist. Im Gegenteil: Die Menschen genießen das Leben, ihre Freiheit – und die Fans auch in Europa endlich einen Fußball, der nicht im aseptischen Setting erstickt. Markus Völker

Contra

Die Bilder dieser Europameisterschaft sind irritierend. In Ungarn, in der Budapester Puskás-Arena, spielt man vor voller Kapelle, wie Karl-Heinz Rummenigge vom FC Bayern sagen würde. Und selbst die in Europa besser beleumundeten Dänen haben die Spiele im bis zu 70 Prozent ausgelasteten Parken-Stadion in Kopenhagen zum Massenspektakel gemacht. In München dagegen dürfen aus Pandemieschutzgründen jeweils immer nur 20 Prozent ins Stadion. Zwischen dem Ausnahmezustand und der einstigen Normalität liegen für die TV-Zuschauer:innen bei diesem Turnier oft nur wenige Minuten.

Was richtig und falsch ist in Zeiten von Corona, wird nicht nur kontrovers diskutiert, sondern auch unterschiedlich entschieden in Europa – selbst bei ähnlicher Coronalage. Zu Recht machen einige hierzulande bis heute darauf aufmerksam, dass coronabegründeter Freiheitsentzug rechtsstaatlich abgewogen und nicht vorbei an demokratischen Institutionen organisiert werden darf, dass aus der Angst heraus mitunter Maßloses und Sinnloses entschieden wurde.

Wem der Rechtsstaat in erster Linie ein Herzensanliegen ist, kann jetzt allerdings schlecht sagen: Macht euch mal locker, 60.000 Zuschauer in London sind trotz der Verbreitung der Delta-Variante bei entsprechenden begleitenden Schutzmaßnahmen kein Problem. Das Problem ist doch, dass eine Fußballorganisation namens Uefa ihre Macht- und Druckmittel erfolgreich eingesetzt hat, um die englische Regierung dazu zu bringen, trotz massiv steigender Inzidenzzahlen ihr zuvor abgewogenes Schutzkonzept über Bord zu werfen und 20.000 Zuschauer mehr zuzulassen. Grund dafür waren wohl die offiziell gewordenen Gedankenspiele der Uefa, man könne die entscheidenden Finalspiele kurzfristig noch an ein anderes Land vergeben.

Schon lange sind die großen Sportorganisationen dabei, für ihre Groß­events den Gastgeberstaaten eine eigene Rechtssphäre abzutrotzen. Auch die Stadt München tat sich anfangs schwer, entgegen ihrer Überzeugung der Uefa Zuschauergarantien für die EM-Spiele zu geben. Ob die politische Vorsicht vor Ort angemessen war oder nicht, ist völlig egal. Bedenklich aber ist, dass die Uefa die Gesundheitspolitik in den elf EM-Gastgeberländern nachweislich mitprägt. Wer auf die eigenen Freiheitsrechte schaut, mag das in dem Fall gut finden. Das ist allerdings zu kurz gedacht: Staaten, die erpressbar sind, können ebenso Unliebsames abnicken.

Nach der EM wird in der Münchner Arena bald wieder gespielt. Bei der Testpartie am 24. Juli zwischen dem FC Bayern und Ajax Amsterdam sind statt 14.500 lediglich nur noch 500 Zuschauer zugelassen. Dann nehmen die lokalen Behörden die Coronapolitik wieder selbst in die Hand. Johannes Kopp

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22 Kommentare

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  • 1G
    17900 (Profil gelöscht)

    Das geht uns alle an!



    Die Briten reisen gerne nach Portugal. Das Ergebnis sehen wir!

    Dumm, dümmer, Boris

  • 9G
    91491 (Profil gelöscht)

    Den grossen Sportorganisationen ist die Gesundheit und Leben ihrer Zuschauer scheissegal, wenn sie sich nur ihre Taschen füllen können.

    • 1G
      17900 (Profil gelöscht)
      @91491 (Profil gelöscht):

      Ich gebe Ihnen recht. Skrupellos, wenn es um Kohle geht.



      Eigentlich ein Verbrechen, was da stattfindet.



      Beim Spiel Russland-Finland sind mehrere Dutzen Infizierte nach Finnland zurückgekehrt.



      Den Veranstaltern sollte man wenigstens die gesamten Behandlungskosten aufbdrummen!

  • ...irgendwie fällt mir da Bergamo ein, was war da noch gleich. Ach egal hauptsache dem Fussball gehts gut und die Kinder gehen im Herbst in den Wechselunterricht

  • Hier noch einen nette Statistik zum Thema: Die Zahl der positiven Tests ist gestern (23.6.2021) in Schottland von rund 600 täglich auf 2969 gestiegen - von einem Tag auf den nächsten. Und den weitaus größten Teil der Infizierten machen Männer aus - zufolge den (noch nicht vollständigen) Daten von vorgestern von etwa 350 auf rund 1500:

    www.bbc.com/news/uk-scotland-57580118

    Hier nochmal eine Grafik die das zusammen fasst:

    ichef.bbci.co.uk/n...gender15_44-nc.png

    "We can't be sure why that is, but the obvious explanation is that people were getting together for the football and not taking precautions."

    m)

  • Das Problem ist doch nicht das dürfen, sondern das die Menschen so dumm sind, es auch zu tun.

    Niemand ist ja gezwungen zu diesem Superspreaderevent zu gehen.

    • 1G
      17900 (Profil gelöscht)
      @danny schneider:

      Kurz vor der Wahl werden Politiker das nicht verbieten!

    • 1G
      17900 (Profil gelöscht)
      @danny schneider:

      Dumm und!!! rücksichtslos! Leider ist das nicht nur bei den Fußballheinis der Fall, aber dort eben doch sehr massiv.

  • Na ja, Russland macht es vor, nicht:

    www.sueddeutsche.d...tersburg-1.5331315

    > Gemeint ist ein Leben ohne Einschränkungen von Freiheiten und eine Beschneidung von Bürgerrechten

    Es gibt nach wie vor kein Recht darauf, die Gesundheit von anderen durch sein Verhalten zu gefährden, da steht auch nichts von im Grundgesetz. Es steigert meine Meinung von der taz nicht, wenn solche Sprüche und polarisiernde Meinungen hier abgedruckt werden, um die Einschaltquoten zu erhöhen. Was gebraucht wird sind Fakten, kompetenzfreie Meinungen sind genug im Umlauf.

    > Diese Bilder sind wichtig, ...

    Genau, es geht um Stimmungen und Bilder, um emotionale Meinungen, statt um Fakten. Das ist keine Presse, sondern Propaganda. Wo sind denn hier die Fakten zur Situation?

    > Nun ist es zu spät dafür, aber die Lage ist an mehreren Fronten – Auslastung der Intensivstationen, Inzidenzwerte, Todesfälle, Impffortschritt, Antikörperprävalenz – entspannt,

    Das blendet wichtige Dinge aus: Der Anteil und auch absolute Zahlen des Delta-Virus steigen auch in Deutschland rapide, es verbreitet sich weltweit, mit bereits stark steigenden Inzidenzzahlen in UK, trotz der Impfungen. Die Delta-Variante ist um so viel stärker ansteckend, dass sie erst bei einer sehr hohen Impfquote eingedämmt werden kann, die wir hier definitiv noch nicht erreicht haben. Selbst in Großbritannien nimmt die Belegung der Intensivstation schon jetzt wieder zu.

    > Sie verkennen dabei, dass es dazu schon etliche erfolgreiche Feldversuche gegeben hat

    Da gab es ja neulich auch einen Feldversuch in Indien zu, und einen in Deutschland im Herbst 2020, das Resultat waren 68000 Tote, schon vergessen?

  • 0G
    06438 (Profil gelöscht)

    Wer jetzt nach London ins Stadium fährt muß wohl mit einem Klammerbeutel gepudert worden sein.

    23.06. : 16.135 Infizierte bei



    65 Mill Einwohnern, Inzidenzen bis zu 500/ in der Mehrzahl 100 bis 300 Covidinfizierte pro 100.000 Krankenhausbelegungen steigen wieder - und damit werden auch die Anzahl der Covid Toten wieder steigen. Bislang: 128.000 Covid Tote --



    und ca. 2 Millionen Bewohner der Insel die über Wochen mit Long Covid



    kämpfen.

    www.theguardian.co...vaccinations-today

    • @06438 (Profil gelöscht):

      > und ca. 2 Millionen Bewohner der Insel die über Wochen mit Long Covid kämpfen.

      Und schätzungsweise 7 - 8 % der infizierten Kinder, hier ein Bericht der britischen Channel 5 News:

      twitter.com/DrZoeH...405418023335305216

  • Eindeutig contra! So langsam normaliesieren sich wieder die Zahlen, das Risiko, dass sich das wieder ändert, ist zu groß! Trotzdem werden 20000 Deutschländer in London sein, wollen beim Titelgewinn dabei sein.

  • 1G
    17900 (Profil gelöscht)

    IHR WOLLT DEN SUPERSPREADER EVENT?



    Könnt ihr haben - bei den Fussballfuzies.

  • "übersteigerten Aerosolangst" - seufz wenn ich so eine Unterstellung schon lesen muss. taz ihr seid bald nur noch Meinung aber nicht mehr Information.

  • Simple Statistik:



    in UK derzeit ca. 100-Inzidenz. Bei 60.000 Leuten sind also ca. 60 Corona Positive im Stadion. Je nach Begleitmaßnahmen kann man das halbwegs im Griff behalten und die rausfischen oder gezielt und standardisiert Geimpfte, Getestete oder Genesene gezielt kanalisieren.

    • @Tom Farmer:

      > Je nach Begleitmaßnahmen kann man das halbwegs im Griff behalten und die rausfischen oder gezielt und standardisiert Geimpfte, Getestete oder Genesene gezielt kanalisieren.

      Kann man das tatsächlich in der Praxis? Scheint hier nicht so ganz funktioniert zu haben:

      www.bbc.com/news/uk-scotland-57580118

      Ein Problem ist auch, dass sich die Fans im Stadion erfahrungsgemäß nicht an einschlägige Regeln halten, egal was die Veranstalter tun.

    • @Tom Farmer:

      so simple ist Statistik leider nicht, ich denke mal das das Klientel 60+ um einiges weniger vetreten sein wird als 20-60, 60 plus ist schon fast komplett geimpft, 20-60 nicht, demetsprechend sieht es auch mit der Inzidenz aus, außerdem weiß man auch nicht, ob das Klientel Fußballstadion sich genauso verhält in ihrer Freizeit, wie der rest der Bevölkerung, da sie zum Beispiel in ein 60k Stadion gehen, dementspechend kann hier die Inzidenz nochmal höher sein....

      • @JJklar:

        Dazu kommt noch: Wenn die Leute im Fernsehen volle Stadien sehen und dass sich keiner an die Regeln hält, denken sie das sei in Ordnung so.

        Dabei wissen wir, dass sich die Delta Virus Variante sogar im Freien überträgt(*), wir sind auch mit den Schulferien eigentlich in einer günstigen Ausgangssituation, die Infektionszahlen weit weit runter zu bringen und die verbleibenden Fälle schnell aufzuspüren.

        Jetzt alle Vorsicht fallen zu lassen, ist wie wenn die Feuerwehr ein Sägewerk löscht und es fast geschafft hat, aber nun ist Mittag und wird erst mal Brotzeit gemacht. Passt einfach nicht zur Situation.

        Ich gönn' den Leuten ihr Fußballfest - nächstes Jahr, wenn alle die wollen, die Impfung auch haben.

        (*) twitter.com/DrEric...406779894785351688

    • @Tom Farmer:

      Bleibt die Frage: Muss das ganze ausgerechnet jetzt sein? Wäre das ganze komplett ausgefallen, wäre dies kaum jemand ausgefallen, außer denen, die die große Kohle einbüßen.

      • 9G
        91491 (Profil gelöscht)
        @Bunte Kuh:

        Recht so 👍