Altersarmut bei Künstler*innen: Immer weiter arbeiten
Künstler*innen leben oft im Prekariat. Im Alter verschärfen sich ihre ökonomischen Probleme. Es fehlen Modelle gegen die Altersarmut in der Kunst.
Es klingt hart, aber sie müsse es so sagen: Wer sich an die Spielregeln halte, der verliere. Hörbar atmet die Frau am anderen Ende der Leitung aus: „Ich stecke in dieser Zwangsjacke fest.“
Einen Tag später zieht sie ihr Interview zurück, sie würde gern, aber sie könne es sich nicht leisten, öffentlich über Altersarmut zu sprechen. Jedes halbe Jahr werde von ihr verlangt, sich nackt zu machen, bis auf den Pfennig Hab und Gut offenzulegen. Dann fügt sie hinzu: „Ich stehe unter Beobachtung.“
Sie bleibt nicht die Einzige, die von den zum Thema Altersarmut angefragten Künstlern und Künstlerinnen absagt. Gründe dafür gibt es viele. Gefürchtet werden Sanktionen vom Amt, sofern Grundsicherung oder andere Sozialhilfeleistungen bezogen werden, ebenso wie Rufschädigung. Nach wie vor ist Altersarmut ein Tabuthema, obwohl sie immer mehr Menschen betrifft, auch in Deutschland.
So geht etwa aus den 2019 veröffentlichten Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) hervor, dass bei einem Anstieg von 16,8 auf 21,6 Prozent jeder fünfte Rentner in 20 Jahren von Armut betroffen sein könnte. Zudem hat die Pandemie die Problematik weiter verschärft, wie Sozialverbände oder das Deutsche Institut für Altersvorsorge (DIA) warnen.
Vom Bund im Stich gelassen
Leben im Prekariat, sogar im hohen Alter – für viele Künstlerin*innen hierzulande ist diese Prognose bereits Realität. Eine Gruppe, die vom Bund in der Krise im Stich gelassen wurde, findet die Sprecherin des Berufsverbands bildender Künstler*innen Berlin (bbk berlin), Zoë Claire Miller. In Berlin habe es zwar substanzielle Rettungsprogramme gegeben, doch seien die ohne Digitalkompetenz kaum zugänglich gewesen.
Auch deshalb entschied sich der bbk berlin dazu, eine von der Giesecke+Devrient Stiftung erhaltene Spende an insgesamt 29 Künstler*innen über 60 Jahre auszuschütten, in Form von Einmalzahlungen in Höhe von jeweils 2.000 Euro. Vergeben wurde nach „sozialer Dringlichkeit“ und an professionell tätige Kunstschaffende, erläutert Miller.
Jeder Einzelfall ist vom Beirat, ähnlich wie beim Atelier-Programm des bbk berlin, diskutiert worden. Die Schicksale gegeneinander abzuwägen, sei nicht leicht gefallen. Unter 80 Bewerber*innen mit unterschiedlichstem Background wurde ausgewählt, darunter wären auffallend viele Frauen gewesen, „weil ihnen die Jahre der unbezahlten Pflegearbeit an Renteneinzahlungen fehlen“, sagt Miller.
Mut schöpfen
Eine der Empfängerinnen ist Betty Lerche, so das Pseudonym von Bettina Ginther, die hauptsächlich als Film- und Installationskünstlerin arbeitet. Trotz Bedenken empfängt die 61-Jährige in „ihrem englischen Rosengarten“ in Kreuzberg, den sie in Eigenregie um ihre Terrasse angelegt hat. Während zu ihren Füßen bei über 30 Grad der zwölfjährige Chihuahua Igor keucht, erzählt sie, dass die Zahlung des bbk berlin für sie viel mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein gewesen sei, denn so habe sie erneut Mut geschöpft, ihr aktuelles Filmprojekt „When Icebirds Catch Fire“ fortzusetzen.
Angeregt sei das von ihrem direkten Umfeld und einem Ort, der ihrer Wohnung direkt gegenüber liegt, dem Berliner Kinomuseum von Frank Schoppmeier am Kottbusser Damm. In einzigartiger Atmosphäre würden da in waschechter Underground-Manier Filme von Jungen und Independent-Größen wie Werner Schroeter oder Werner Fassbinder gezeigt, die sie früher schon geschätzt oder auch gekannt habe. Hier wurde dann vor vier Jahren die Idee geboren, einen Berliner Salon zu gründen. „Frank hat die Räume gestellt, da gibt es eine kleine Stage, wo Leute auftreten.“ Ganz ähnlich wie zu Beginn des Fischlabors oder der Tödlichen Doris sei das gewesen, schwärmt Betty Lerche.
Leute jedweder Couleur seien zusammengekommen, vor allem sei ein „Refugium für Transmenschen“ entstanden. Schnell hat sie gemerkt, dass sie dieses „letzte Reservat“ – eine Anspielung im Untertitel ihres Films auf ein Werk des Regisseurs Peter Beauvais von 1973 – filmisch festhalten will.
Immer eine Hangelpartie
Gelder für einen Kunstfilm zu generieren, sei immer eine Hangelpartie gewesen. Das galt schon, als sie ihr Studium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB) schmiss, um bei Peter Kubelka an der Frankfurter Städelschule zu lernen, und in der Folgezeit sowieso, ergänzt Betty Lerche. Lange hat sie in New York am Anthology Film Archive mit Jonas Mekas und Stan Brakhage gearbeitet und später in Tel Aviv.
Mit der Altersdiskriminierung, die sie jetzt zu spüren bekäme, seien diese Schwierigkeiten allerdings nicht zu vergleichen. „In den Vierzigern fing es langsam an, und je älter ich war, desto extremer wurde das.“ Schwer wiege etwa, dass 99 Prozent der interessanten Ausstellungen, Preise oder Stipendien altersmäßig auf 35 Jahre reglementiert seien.
Da erreiche man diverse Tiefpunkte, sagt Betty Lerche. So hätten sie und ihr Team, nachdem zahlreiche Anträge, etwa bei der Heinrich-Böll-Stiftung, und ein Crowdfunding scheiterten, kurzzeitig erwogen, den Film für eine Förderung unter dem Namen ihrer Kamerafrau einzureichen, die noch an der UdK studiert.
Schließlich produziere sie keine Blockbuster und spiele dementsprechend keine Unsummen ein. Im Vergleich zu dem, was für einen Independent-Film veranschlagt werde, sei das Budget, mit dem sie bislang auskommen mussten, ein Witz.
Auch von staatlichen Behörden würde man mehr in die Mangel genommen denn unterstützt. Dort würde weder verstanden noch berücksichtigt, dass eine Künstlerin keinen Lebensentwurf wie eine Sekretärin hat oder nicht zeitig in den Ruhestand gehe. Alter stehe doch erst am Ende von etwas, resümiert Betty Lerche, das dazwischen müsse ebenfalls zählen. Kunst brauche schließlich Raum für Entwicklung und Reflexion. „Im Grunde beschäftige ich mich seit 20 Jahren mit diesem Film.“ Erst jetzt fühle sie sich in der Lage, ihn umzusetzen.
Umdenken in der Politik gefordert
So froh sie über die Spende beim bbk berlin gewesen seien, an der strukturell bedingten Misere würde die wenig ändern, kritisiert auch Zoë Claire Miller. Vielmehr müsse die Politik umdenken, Prozesse demokratisiert werden. Statt etwa einen prestigeträchtigen, mit 30.000 Euro dotierten Renommee-Preis zu verleihen, bräuchte es flächendeckend Hilfe.
Denn berufliche Anerkennung oder „dichte Lebensläufe“ würden eben nicht automatisch vor materieller Not schützen. Zu oft würden Erfolg und Kapital gleichgesetzt. Wer es bis dato nicht geschafft habe, so der Irrglaube in den Köpfen, sei selbst schuld.
Dabeizubleiben, sich künstlerisch auszudrücken, zehre an einem, sei ein ungeheurer Kraftakt, fasst Betty Lerche zusammen, die „nebenbei“ noch zwei Kinder allein großgezogen hat. Nur wer sich innerlich abschirme gegen eine permanent präsente Existenzbedrohung, dem gelänge es, trotzdem produktiv zu sein. Irgendwie habe sie es stets gestemmt, aber etwas bleibe auf der Strecke.
„Ich zahle 820 Euro Miete für 52 Quadratmeter und erhalte 985 Euro vom Amt.“ Ergo, sie müsse Geld dazuverdienen. „Aber alles, was 100 Euro übersteigt, bekommst du wieder abgezogen.“ So werde man im Grunde in die Illegalität getrieben oder in einen anderen Berufszweig.
In den letzten zehn Jahren sei kein Tag vergangen, sagt Betty Lerche, an dem sie nicht kalkulierte, wie viel für Essen bleibt. „Kleider kaufe ich mir nicht, und weggefahren bin ich zuletzt, als ich aus Israel zurückkam, das war 2008.“ Denke sie deshalb ans Aufhören? „Nein!“, entgegnet sie bestimmt: „Kunst mache ich, bis ich tot umfalle.“
Grundrente? Für Künstler+innen schwer erreichbar
Zwischen Anspruch und Wirklichkeit klafft ein großer Graben. Das zeigt auch die nun beschlossene Grundrente, die von vornherein all jene ausschließt, die nicht mindestens 30 Prozent des jährlichen Durchschnittsentgelts erwirtschaften – selbst dann, wenn lückenlos 35 Jahre in die Rentenkasse eingezahlt wurde.
Für 2020 wurde die Grenze bei 12.165 Euro ermittelt, eine Umfrage der Künstlersozialkasse ergab, viele der KSK-Versicherten erreichten diesen Jahreswert nicht. „Die Umfrage des Bundesverbands hat ergeben, dass selbst die Maler*Innen mit 12.200 Euro Mittelwert darunter liegen“, bestätigt Zoë Claire Miller. In Berlin fiele das Ergebnis noch dramatischer aus, da pendle sich der jährliche Verdienst der Künstler bei 10.700 und bei Künstlerinnen bei 9.300 Euro ein.
Zwar bräuchten sie noch Mittel für die Postproduktion, erzählt Betty Lerche beim Abschied, doch fest stehe dank ihres Netzwerks bereits, ihr Film werde Premiere feiern, und zwar im Bundesplatz-Kino.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
Kritik an Antisemitismus-Resolution
So kann man Antisemitismus nicht bekämpfen
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
VW in der Krise
Schlicht nicht wettbewerbsfähig
Kränkelnde Wirtschaft
Gegen die Stagnation gibt es schlechte und gute Therapien
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an