: Der Schrecken von Sivas bleibt
Alevit*innen erinnerten ans Massaker von Sivas – und den Versuch der türkischen Regierung, die frommen Täter in Frieden leben zu lassen
Von Benno Schirrmeister
Wieder war der 2. Juli ein Freitag, so wie damals, 1993. Und der Wochentag hat besonderes Gewicht, vielleicht mehr, als ein runder Jahrestag hätte: Der 2. Juli ist seit 28 Jahren ein traumatisches Datum für Alevit*innen. Zum Gedenken an das Massaker von Sivas vor 28 Jahren hatten der Alevitische Kulturverein Bremerhaven und die Alevitische Gemeinde Bremen zur Kundgebung aufgerufen.
Vor der Bürgerschaft erinnerten etwa 100 Teilnehmer*innen gestern an die Verbrennung von 35 Menschen am hellichten Tage in der zentralanatolischen Stadt. Nach dem muslimischen Freitagsgebet, durch die Predigt aufgestachelt, war seinerzeit eine Schar von gut 15.000 Gläubigen von der Moschee durch die Stadt zum Madımak-Hotel gezogen.
In dem war ein alevitisches Musik- und Literaturfestival ausgerichtet worden. Vor allem der Auftritt des atheistischen Satirikers Aziz Nesin (1915-1995) brachte die Frommen in Rage: Sie umzingelten das Hotel und zündeten es an – angefeuert vom Bürgermeister, der, ganz wie der heutige Präsident Recep Tayip Erdoğan, zur später verbotenen radikal-islamischen Wohlfahrtspartei (RP) gehörte. Übers Dach gelang 50 Menschen die Flucht. Die übrigen starben in den Flammen.
Schwarz-Weiß-Fotos von ihnen sind aufgebaut auf dem Marktplatz, rote Nelken und Grableuchten für die Opfer. In einer kurzen Rede bedauerte Linken-Vorstand Medine Yildiz, die selbst aus einer alevitischen Familie stammt, dass viele „Hintermänner dieser Tat bis heute unbekannt geblieben“ seien. Die juristische Aufklärung sei von der Regierung „nach allen Kräften verhindert“ worden. Erst hatte ein Scheinprozess 1994 mit Bagatellstrafen das Ende markieren sollen. Dann hatte sich die Türkei infolge weltweiter Empörung zwar genötigt gesehen, ein erneutes Verfahren aufzulegen.
Bei dem wurden 33 Männer zum Tode verurteilt, mehrere in Abwesenheit. Unbehelligt blieben die wichtigsten Drahtzieher: So starb RP-Stadtrat Cafer Erçakmak, seit der Tat per internationalem Haftbefehl als Rädelsführer gesucht, im Juli 2011 friedlich im Bett in Sivas. Aleviten sind eine religiös-kulturelle Minderheit in Anatolien. Ein Dogmensystem haben sie nicht, sie glauben an Hak – also die Wahrheit. Manche von ihnen fühlen sich dem schiitischen Islam zugehörig, obwohl sie von muslimischer Seite brutaler Verfolgung ausgesetzt sind. Es gibt aber auch stark naturreligiös-deistische, philosophische Auslegungen der Traditionen.
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