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Der Clan-Staat

In Aserbaidschan geht nichts ohne die Herrscherfamilie Aliyev. Politaktivisten berichten über die Zustände im EM-Gastgeberland, das sich mit Öl und Gas ein Image formt

Prestige­objekt der Pluto­kraten: das Heydar-Aliyev-Cultural-­Centre in Baku Foto: Darko Vojinovicy/ap

Aus Baku Alina Schwermer

„Wir haben es seit 2011 nicht mehr geschafft, dass es weniger als hundert politische Gefangene gibt“, sagt Akif Gurbanov. Er sitzt in einem der hippen Cafés von Baku, einem Starbucks-Verschnitt, zwischen gläsernen Hochhäusern und einer Shopping-Mall. Gurbanov wird seinen Kaffee am Ende halb voll stehen lassen, er redet zwei Stunden lang durchgängig. Er ist demokratischer Aktivist in Aserbaidschan, Vorsitzender beim Institute for Democratic Initia­tives, und engagiert sich für die Freilassung politischer Gefangener. „Wir haben Finanzprobleme. Staatliche Gelder stehen nur den Proregierungsorganisationen zur Verfügung. Zivile Gruppen können nur noch im Untergrund tätig sein“, sagt er. Die Regierung übe mit willkürlichen Verhaftungen Macht aus. „Sie befiehlt, Leute zu inhaftieren, und nach internationalem Druck werden sie wieder freigelassen. Dann ist eine andere oppositionelle Gruppe dran. Das ist ihr Stil.“

Dass die Menschenrechtslage in Aserbaidschan desaströs ist, schafft es in die meisten Artikel zur Männer-EM. Oft aber bleibt es beim pflichtschuldigen Abhaken von Stichworten: Autokratie, fehlende Pressefreiheit, Sportswashing. Und wie in einer Zeitschleife keimt die Kritik zu jedem Event auf und vergeht wieder. Was aber passiert eigentlich wirklich in einem Land wie diesem und wieso? Auch die Frage, ob etwa ein Boykott wirklich weiterhilft, ist gar nicht so leicht zu beantworten.

Wenn Akif Gurbanov erzählt, wie das Elend begann, fängt er in den 90er Jahren an. Damals steht das frisch unabhängige Aserbaidschan wie so viele ehemalige Sowjetrepubliken vorm finanziellen Kollaps, zugleich bricht der Konflikt um Bergkarabach wieder auf. „1992 gab es zum ersten und einzigen Mal freie und faire Wahlen.“ Die Chance auf Wandel ist kurz, die Übergangszeit chaotisch, und im Gegensatz zu anderen Ex-Republiken überlagern zu viele Konflikte einander – schon 1993 kommt der Vater des heutigen Herrschers İlham Aliyev, Heydar Aliyev, an die Macht.

Es ist der schnelle Beginn einer Familien-Autokratie. „Von Anfang an ging es nicht um politische und demokratische Weiterentwicklung, sondern um wirtschaftliche Entwicklung“, sagt die Journalistin Arzu Geybulla, „und nicht um ein faires wirtschaftliches System, von dem alle profitieren, sondern um eines, das sich auf Offizielle, Familienclans und Privatinteressen fokussierte.“ Dass die politische Debatte verpasst wurde, sei ein fatales Versäumnis gewesen. Geybulla ist Journalistin und Aktivistin. Seit sie wegen ihrer kritischen Berichterstattung zum Krieg gegen Armenien Morddrohungen erhielt, lebt sie in Istanbul im Exil.

Über Video erzählt sie, wie das Land sich wandelte. „Der Vater, Heydar, tolerierte zu einem gewissen Grad Kritik, er tolerierte Witze über sich selbst. Sein Sohn hatte einen anderen Hintergrund. Er wurde Präsident, weil er der Sohn ist. Seine Haltung gegenüber der Zivilgesellschaft ist viel schlimmer. İlham hat keinen Sinn für Humor, weil er fürchtet, Autorität zu verlieren, wenn er zu locker wird.“ Und noch etwas veränderte die Situation für Aserbaidschan – Öl und Gas.

Der Aktivist Gurbanov beschreibt, wie das Land Anfang er 2000er Jahre bemüht gewesen sei, europäische Forderungen nach Demokratie zu erfüllen. Dann kam der Ölboom. Die Regierung wurde selbstbewusster gegenüber dem Westen. Und es kamen Revolutionen: in Georgien, Kirgistan, der Ukraine, etwas, das man ab 2013 um jeden Preis verhindern wollte. „Mit dem Ausschalten der Opposition haben sie angefangen“, so Gurbanov. „Dann haben sie unabhängige Medien aufgekauft, mit Geldern der Oligarchen. Die anderen haben sie eingeschüchtert, verhaftet, ins Exil geschickt oder in den Ruin getrieben. Als Letztes sind sie gegen die Zivilgesellschaft vorgegangen.“

All das ist wichtig, um das Agieren Aserbaidschans auf internationaler Ebene, etwa im Sport, zu verstehen. Europa hat an Bedeutung verloren, wichtigster Bündnispartner und Bruderstaat ist die Türkei. „Das Regime hat viel vom türkischen Beispiel gelernt“, so Geybulla. „Auch deshalb wird hier so viel in Imagekampagnen investiert. Es geht darum, das Image einer mächtigen, reichen Nation aufzubauen.“ Jede Kritik daran werde zu einer Bedrohung durch fremde Mächte stilisiert. In der Bevölkerung verfängt das. Früher hätten sie als AktivistInnen gehofft, wie die Türkei zu werden: ein Mehrparteiensystem, eine lebendige Zivilgesellschaft mit freien Wahlen. Stattdessen, sagt sie trocken, sei die Türkei nun wie Aserbaidschan geworden.

Das Nationalstadion von Baku ist ein imposanter Bau mit beleuchtbaren Kacheln, etwas außerhalb des Zentrums. Ein wenig sieht es aus wie die Münchner Arena. 70.000 ZuschauerInnen passen rein. 2015 errichtet, hat es über 700 Millionen Dollar gekostet. Davor stehen die üblichen Snack-Buden. Und oft bleibt das Stadion leer. Laut dem Demokratie-Aktivisten Gurbanov betrifft das die meisten Stadien in Aserbaidschan. „In jeder Region haben wir jetzt olympische Stadien. Die Regierung nutzt die Bauprojekte für politische Kampagnen und Geldwäsche.“ Einige Arenen seien wieder geschlossen, andere renovierungsbedürftig, wieder andere würden für sportfremde Zwecke genutzt. Im Nationalstadion von Baku, so Gurbanov, finden Hochzeiten statt.

Seit Jahren veranstaltet Aserbaidschan gezielt internationale Großevents; am prominentesten neben der EM waren der Eurovision Song Contest, die European Games, die Formel 1 und das Finale der Europa League in Baku. Sie sollen TouristInnen ins Land bringen, die beschworenen Effekte werden aber zumindest von AktivistInnen angezweifelt. Trotzdem ist in Baku viel Stolz auf die EM-Gastgeberrolle spürbar. Die Journalistin Arzu Geybulla sagt, es sei ein widersprüchlicher Stolz: „Die allgemeine Ansicht ist: Diese Events sind gut fürs Image, gut für Aserbaidschan, sie bringen Touristen. Aber viele Leute können sich die Tickets nicht leisten, sie klagen, weil Busse nicht fahren und die Straßen gesperrt sind. Es sind keine Veranstaltungen für den durchschnittlichen Aserbaidschaner.“

„Die Regierung nutzt Bau­­projekte zur Geldwäsche und für Politkampagnen“

Akif Gurbanov, Politaktivist

Immer wieder werden in Deutschland solche Veranstaltungen kritisiert, gleichzeitig entwickelt das Event eine Eigendynamik. Wie kommt man aus diesem Kreislauf heraus? Geybulla nennt das „die Eine-Million-Dollar-Frage“. Beide AktivistInnen reagieren auf die Frage nach einem Boykott zögerlich. Sie sehen ihn kritischer, als das in deutschen Medien stattfindet. Akif Gurbanov erzählt vom Eurovision Song Contest. „Da gab es zum ersten Mal echte internationale Aufmerksamkeit. Internationale Journalisten schrieben kritische Artikel. Die Regierung wollte ihnen Luxus zeigen, aber die Journalisten haben auch anderswo recherchiert. Das hat die Regierung gestört.“ Es gebe da keine einfache Antwort. Er beklagt zudem die Doppelzüngigkeit westlicher Politik. „Sie reden über Menschenrechte, aber sie meinen es oft nicht. Ihr solltet zuhören, was wir zu sagen haben.“

Die deutsche Botschaft in Baku sei nicht mehr besonders aktiv in der Zusammenarbeit mit NGOs. Und die CDU-Abgeordneten, die sich von Aserbaidschan bestechen ließen, erwähnt auch er. Anders als etwa in Belarus gebe es keine breite Front gegen den Autokraten. Denkbar, dass ein Boykott erst recht ein nationalistisches Opfernarrativ fördert. „Viele Menschen kennen keine Regierung mehr ohne die Aliyevs“, sagt Geybulla. „Sie sind frustriert, aber das heißt nicht, dass sie deswegen auf die Straße gehen würden.“ Die Journalistin sieht Boykotte gleichfalls kritisch. „Ich glaube nicht, dass Boykott eine Lösung ist. Für die Zivilgesellschaft sind solche Sportturniere eine große Chance, Informationen nach draußen zu tragen. Andererseits verschwindet die Aufmerksamkeit auch schnell wieder. Und was bekommt die normale Bevölkerung überhaupt von der Debatte mit?“ Sie sei pessimistisch. „Solange es keine Menschenrechtsstandards für Sportveranstaltungen gibt, können wir nichts tun. Dafür brauchen wir die Uefa und andere Organisation. Das werden sie natürlich nie einführen, weil sie nur aufs Geld schauen. Wir hängen in einer oberflächlichen Dauerschleife.“

Wenn sich etwas ändern solle, sagt sie, dann nur mit klaren Vorgaben. Das wäre in gewissem Sinne auch ein Boykott – aber einer, der darauf zielt, Forderungen durchzubringen, die ein Regime ohne allzu großen Gesichtsverlust akzeptiert. Klar ist aber auch: Ein Patentrezept gibt es nicht. Manche haben dennoch Hoffnung. Gurbanov erzählt, es gäbe in jüngster Zeit mehr Kritik am Regime in den sozialen Medien durch junge AserbaidschanerInnen. Tiktok spiele eine Rolle; und mit Videos über Menschenrechte könne seine Organisation bei Youtube bis zu 450.000 Aufrufe erreichen.

Statt den Präsidenten direkt zu kritisieren, was sehr gefährlich sei, helfe es, Korruption auf der Ebene darunter anzusprechen. „Manchmal bewirkt das etwas.“ Die Ansprüche sind klein. Und durch den Krieg gegen Armenien konnte İlham Aliyev seine zuvor gesunkene Popularität wieder deutlich steigern. Mehr als durch Fußball.

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