afrobeat: Der ewige Streitfall Ruanda
Was zwei neue kontroverse Bücher in Großbritannien und Frankreich über Ruanda enthüllen, wirft neues Licht vor allem auf den eigenen Diskurs
Dominic Johnson
ist seit 1990 Afrika-Redakteur
der taz und leitet heute zusammen mit Barbara Oertel das Auslandsressort.
Seine Kolumne „afrobeat“ erscheint an dieser Stelle seit 2014 etwa alle sechs Wochen.
Kein lebender afrikanischer Politiker spaltet die Welt so wie Paul Kagame. Ruandas Präsident ist für die einen ein Held, der sein Land 1994 vom Völkermord befreite und Ruanda zu einem afrikanischen Vorreiter aufgebaut hat. Für die anderen ist er ein Monster, das den Völkermord an den Tutsi zur eigenen Machtergreifung ausnutzte und ein aggressives Terrorregime errichtet hat.
Die Debatte über Ruanda ist zentral in einer Zeit, in der Corona Afrika radikal zurückwirft. Kagame sagt, Afrika dürfe der Welt nicht trauen, es müsse sich auf die eigene Kraft besinnen, um zu überleben. An seiner Glaubwürdigkeit entscheidet sich Afrikas Zukunftsdiskussion.
In Belgien und vor allem Frankreich, das die Täter des Völkermordes an Ruandas Tutsi 1994 aufrüstete und Kagame und seine Guerilla RPF (Ruandische Patriotische Front) bekämpfte, dominierte lange die Sichtweise der flüchtigen Völkermordtäter. Man minimierte den Völkermord und erklärte die RPF, welche die Völkermordregierung stürzte, zu den wahren Verbrechern. In Großbritannien und vor allem den USA, die das „neue Ruanda“ der RPF förderten, benannte man die Hintergründe des Völkermordes offen und huldigte Kagame als Retter seines Landes.
Neuerdings vertauschen sich die Lager. Im französischen Raum weicht das Schweigen über die Geschichte der Ehrlichkeit über die eigene Kumpanei mit den Völkermördern. Im englischsprachigen Raum führen Zweifel an Ruandas Selbstdarstellung zu Ehrlichkeit über die eigene Überschätzung des Kagame-Systems. Aber die beiden Diskurse kommunizieren kaum und lernen nicht voneinander. Diskreditierte Thesen der Völkermordleugner, von denen man sich im französischen Raum verabschiedet, tauchen im englischen Raum als Neuentdeckungen auf. Zwei neue Bücher, die in Großbritannien und in Frankreich für Kontroverse sorgen, illustrieren dies.
„Do Not Disturb“ der britischen Journalistin Michela Wrong ist eine bemerkenswerte Recherche über Ruandas ehemaligen ruandischen Auslandsgeheimdienstchef Patrick Karegeya, der sich vom engen Weggefährten Paul Kagames zum enttäuschten Kritiker wandelte und in Südafrika im Exil ermordet wurde, mutmaßlich auf Geheiß der ruandischen Regierung. Wrong rekonstruiert nicht nur diesen Mord, sondern seziert das Innenleben der RPF, von ihren Anfängen unter ruandischen Tutsi-Exilanten in Uganda bis zur Allmacht in Ruanda. In dieser Geschichte ist Kagame der Bösewicht, erst eine intrigante Spaßbremse und heute ein jähzorniger Diktator. Alle anderen sind die Guten. Die Enthüllungen faszinieren, aber der analytische Rahmen ist schwach: Wrong unterstellt der RPF systematisches Lügen, aber Erzählungen der RPF-Dissidenten sind für sie Wahrheiten, auch wenn sie das Geschichtsbild der Völkermordideologen transportieren – so in der Unterstellung, die RPF habe in Ruanda und Kongo einen verheimlichten „zweiten Völkermord“ an den Hutu begangen. Im französischen Raum ist das widerlegt, hier wird es unkritisch vorgetragen.
„La traversée“ des französischen Journalisten Patrick Saint-Exupéry ist eine Spurensuche nach ebendiesem „zweiten Völkermord“. Saint-Exupéry, bekannt für Enthüllungen über Frankreichs unrühmliche Rolle in Ruanda, begibt sich an Stätten des mutmaßlichen „zweiten Genozids“ an den Hutu: das Kloster Kibeho in Ruanda, die einstigen Hutu-Flüchtlingslager im Kongo, die Stationen der Flucht der zurückweichenden Hutu-Armee quer durch Kongos Regenwald. An den angeblichen Massakerorten erinnert sich niemand an Massaker. Eher sind die flüchtigen Hutu in schlechter Erinnerung geblieben. Der Franzose ist aber viel weniger akribisch als die Britin. Er forscht nicht nach Zeitzeugen, er gibt sich mit den Menschen zufrieden, die er vorfindet. Seine Neugier, Unbekanntes herauszufinden und das Gegebene zu hinterfragen, ist gering.
Beide Recherchen sind dennoch wertvoll. Und immerhin ist Konsens: Die Wahrheit über Ruanda beginnt mit der Anerkennung des Völkermordes an den Tutsi 1994. Zur Wahrheit gehört auch: Der Krieg, mit dem die RPF 1994 diesen Völkermord stoppte und danach die flüchtigen Täter jagte, ist nicht beendet. Nur wer versteht, dass Kagame sich bis heute im Krieg sieht, versteht Ruandas Politik.
Denn die flüchtigen Täter haben die Waffen nicht niedergelegt. Und solange sie weitermachen, so lange macht die RPF weiter – als militärische Organisation, die nach dem Prinzip Befehl und Gehorsam regiert, Abweichler als Verräter bestraft und Ruanda Frieden schenkt, indem sie Feinde möglichst weit weg konfrontiert.
Überall in Afrika, wo ehemalige Befreiungsbewegungen regieren, ist das militärische Organisationsprinzip bewahrt, auch wenn das westliche Entwicklungspolitiker ärgert. Selbst Nelson Mandela wurde einst an der Waffe ausgebildet und Südafrikas ANC pflegt bis heute die politische Kultur einer Geheimorganisation. Dabei zogen sich Südafrikas Apartheidschergen 1994 nicht zum Weiterkämpfen in die Wüste zurück, sondern gaben die Macht und die Waffen friedlich ab.
Nur im Falle Ruandas ist der Gegner von einst immer noch aktiv. Das macht Ruanda zu einem Sonderfall und erklärt auch Kagames entwicklungspolitischen Ehrgeiz. Denn militärischer Sieg genügt ja nicht: Die RPF muss auch ein Ruanda bauen, gegen das kein Ruander mehr die Waffen erheben will. Die glitzernden Hochhäuser und sauberen Straßen Kigalis, das ständige Antreiben des eigenen Volkes zu Höchstleistungen – das sind nicht nur Entwicklungs-, sondern auch Überlebensstrategien. Wer sie anzweifelt, dem wird vorgeworfen, Ruandern lieber Spaltung und Tod zu wünschen. Dieser Diskurs ist schwer übertragbar, denn Ruandas Geschichte ist einzigartig. Ruanda kann für Afrika also keine hundertprozentige Blaupause sein. Und dennoch kann man Ruandas junger Generation nur wünschen, dass der eingeschlagene Weg zum Ziel führt.
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