Uni Hannover streicht Professur: Inklusion ausgebremst
An der Universität Hannover wird die Professur für Inklusive Schulentwicklung gestrichen. Dabei sollte der Bereich eigentlich ausgebaut werden.
Mit Werning selbst hat dieser Streit gar nichts zu tun. Es geht um Haushaltsentscheidungen der Landesregierung: Viele Millionen Euro müssen Niedersachsens Hochschulen pro Jahr einsparen, auch die Universität Hannover ist betroffen. Eine der Folgen: Ende 2020 erfuhr das IFS, dass das Präsidium der Universität mit Zustimmung des Senats die erst vier Jahre alte Professur streicht, spätestens mit Wernings Dienstzeitende 2027. Geht Werning früher, ist sie früher weg. 24 Professuren fallen in Hannover dem Rotstift zum Opfer.
„Ich versuche, das nicht zu nah an mich rankommen zu lassen“, sagt Werning der taz. „Aber demotivierend ist das natürlich schon.“ Vor allem, weil es so widersinnig ist. Die „Entwicklungsplanung 2023“ der Universität sieht nämlich das Gegenteil vor: eine Stärkung des Bereichs Inklusive Bildung und Schulentwicklung als „zunehmend eigenständiges Forschungsprofil“ im Zuge des „Ausbaus der Sonderpädagogik“. Jetzt aber fällt eine Professur weg, die es in ganz Niedersachsen mit diesem Schwerpunkt kein zweites Mal gibt.
„Da ist viel Geld reingeflossen“, sagt Werning konsterniert. „Wir sollten den Bereich stark ausbauen, und das haben wir auch getan. Die Studierendenzahl hat sich verdoppelt. Und jetzt so etwas – das ist doch paradox.“ Was ihn besonders irritiert: „Schriftlich hat uns das Präsidium dazu noch gar nichts Schlüssiges reingereicht. Und gesprochen hat mit uns vorher auch keiner.“
Marc Thielen, Institut für Sonderpädagogik
Jetzt lastet viel Druck auf Werning. Druck, auf jeden Fall bis zur Pensionierung zu bleiben. Druck, nicht zu wissen, wie lange noch Doktoranden angenommen werden können, wie lange es noch Sinn hat, Forschungsprojekte zu beginnen. Dass ihm die Arbeit trotzdem noch Spaß macht, hat auch mit der breiten Solidarität zu tun, die er erfährt.
Die Einsparung sei „unter dem steigenden Bedarf nach sonder- und inklusionspädagogischer Expertise in der Schulpraxis in keinem Fall nachvollziehbar“, schreibt Petra Wontorra, Niedersachsens Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderungen, Anfang Februar in einem offenen Brief. Adressaten sind nicht zuletzt Uni-Präsident Volker Epping, Kultusminister Grant Hendrik Tonne (SPD) und Björn Thümler (CDU), Niedersachsens Minister für Wissenschaft und Kultur.
Es gab Landtagsanfragen. Es gab Pressekonferenzen. Das Institut für Sonderpädagogik der Universität Oldenburg hat sich solidarisiert, der Landeselternrat Niedersachsen. Viele Bildungsverbände haben mit allem Nachdruck protestiert, vom Grundschulverband, Landesgruppe Niedersachsen, bis zum Verband Niedersächsischer Lehrkräfte. Das IFS sucht mit einer Widerstands-Onlinepräsenz die Öffentlichkeit. Ein riesiges Banner der Fachschaft hängt an der Fassade des IFS: „Lehrer*innenbildung braucht Inklusion“.
Auch eine Petition auf der Kampagnenplattform change. org für den Erhalt der Professur, aus dem Mittelbau des IFS an Thümler gerichtet, entfaltet Wirkung: Tausende haben unterschrieben. „Die Aufgabe dieses für Inklusion zentralen Fachgebiets wäre ein fatales bildungspolitisches Signal“, heißt es darin.
Für Marc Thielen, Professor für Berufsorientierung in inklusiven Kontexten am IFS, ist es schwer, ein Gegenüber in der Debatte zu finden: „Land und Präsidium weisen sich gegenseitig die Schuld zu. Die Universität sagt: ,Das Land zwingt uns dazu.' Das Land sagt: ,Wo die Universität spart, ist ihr selbst überlassen.'“ Das mache die Sache „ungeheuer schwierig“.
Thielen ist Bitterkeit anzumerken: „,Inklusion ist toll', sagen immer alle. Aber sobald sie etwas kostet, fliegt sie von der Agenda.“ Dabei ist Inklusion nicht einfach eine Kann-Aufgabe. Sie ist im Grundgesetz verankert. Und in Deutschland gilt die UN-Behindertenrechtskonvention. Sie schließt das Recht auf inklusive Beschulung ein.
Falsches Signal
„Der geplante Wegfall ist in jeder Hinsicht ein Fehler“, sagt Heidi Reichinnek, Landesvorsitzende der niedersächsischen Linken. „Inklusion ist ein Menschenrecht, doch Bund und Länder stehen hier immer noch auf der Bremse.“ Der Wegfall der Professur schwäche den Bildungsstandort Niedersachsen. „Welches Signal soll von so einer Entscheidung ausgehen? Der Lehrstuhl muss vielmehr ausgebaut statt weggekürzt werden“, sagt Reichinnek.
Eine Chance gibt es noch: Der Senat prüft die Streichliste einmal pro Jahr. „Vielleicht beeinflusst das die Entscheidung ja noch“, hofft Rolf Werning. „Aber dazu braucht es weiteren Druck der Öffentlichkeit.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier von Christian Lindner
Eine gefährliche Attacke
Felix Banaszak über das Linkssein
„Für solche plumpen Spiele fehlt mir die Langeweile“
Nach Diphtherie-Fall in Berlin
Das Problem der „Anthroposophischen Medizin“
Geschlechtsidentität im Gesetz
Esoterische Vorstellung
Alkoholpreise in Deutschland
Das Geschäft mit dem Tod
Menschenrechtslage im Iran
Forderung nach Abschiebestopp