piwik no script img

Abschied von BerlinAus der Entfernung am schönsten

Felix Zimmermann
Kommentar von Felix Zimmermann

Alle reden sich die Hauptstadt schön. Die Abneigung gegen „die Provinz“ ist Produkt einer tiefen Sehnsucht nach genau diesen kleinen Orten.

Aus der Distanz am schönsten? Die Großstadt Berlin Foto: Dirk Sattler/imago

V on Berlin aus betrachtet ist alles Provinz, nichts kommt an die einzige wirkliche Metropole Deutschlands heran. Alles andere – Dörfer, Kleinstädte, Mittelstädte sowieso, aber auch Großstädte und selbst Städte wie München, Hamburg und Köln – wird belächelt. Menschen von dort haftet das Miefige, Spießige, Engstirnige an, all das, was der Provinz als charakterprägend zugewiesen wird.

Nach jahrelangem Studium bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass dieser Blick auf die Provinz – der aber in Wahrheit ein Blick auf Berlin ist – geprägt ist von permanenter Autosuggestion, stetiger Selbsteinredung, dass Berlin der einzige lebenswerte Ort dieses Landes ist, the coolest place to be, vielleicht sogar on earth, um es auf Berlinerisch zu sagen. Selbsteinredung, weil eigentlich niemand wirklich gern dort leben möchte, man ist halt aus diversen Gründen mal in die Stadt gekommen, und nun lässt sie einen nicht mehr los. Das kann man nur ertragen, indem man es sich schönredet.

Halt, sagte eine kluge Kollegin, als wir im Ressort darüber sprachen, es gibt Menschen, die gern in Berlin leben, das sind die gebürtigen Berliner und Berlinerinnen, und damit hat sie vermutlich Recht.

Grundlage für die ansonsten vielleicht zunächst harsch anmutende These, dass alle sich Berlin schönreden, ist das folgende Studiendesign: beobachtende Teilnahme als Einwohner Berlins seit nunmehr neun Jahren, dazu addiert zwei weitere Jahre in den frühen Nullerjahren. Als Gegenprobe aber auch immer wieder Ausflüge in eine nordwestdeutsche kleine Großstadt, die man in Berlin a) nur kennt, weil sie einmal jährlich ein in Regierungskreisen beliebtes regionalspezifisch verankertes Gröönkohl-Äten veranstaltet, bei dem es jede Menge Grünkohl, Kassler, eine Wurst namens Pinkel, Kartoffeln natürlich und Bier und Schnaps gibt – das ist so sehr Provinz, mehr geht ja nicht –, von der man b) aber ansonsten kaum etwas weiß.

Eine Stadt voller Hängengebliebener

Die Abneigung gegen „die Provinz“ ist in Wahrheit Produkt einer tiefen Sehnsucht nach genau diesen kleineren Orten, aus denen die, die nicht in Berlin geboren sind, einst in die Stadt kamen – junge Männer in Zeiten der alten Bundesrepublik, die der Wehrpflicht entgehen wollten, die dann hier hängen geblieben sind; heutzutage eher die, die auf der Suche nach irgendeiner Form von Freiheit sind, die sie dann in Berlin nicht finden, die aber auch hängen bleiben, weil sie sich eingeredet haben, anderswo sei es ihnen zu eng, zu piefig, zu klein.

Es gibt keinen Weg mehr zurück für sie, außer an den Feiertagen, wenn sie – vorgeblich unwillig – mal wieder in ihre Herkunftsprovinz fahren und das in Wahrheit sehr genießen. Eine Stadt – abgesehen von den dort Geborenen – voller Hängengebliebener, oh weh, oh weh.

Das ist aber auch ein bisschen lustig, weil diese Großstädter in Berlin tatsächlich in einem viel engeren Radius und auf einem viel kleineren soziokulturellen Feld leben als dort, von wo sie kamen. Sie verkleinstädtern ihr riesiges Berlin, oder es ist die Metropole mit all ihren Möglichkeiten, Freiräumen, Brüchen, die die Menschen enger macht.

Es wäre ja auch viel zu anstrengend, all das, was Berlin zu Berlin macht, wahrzunehmen und in sein Leben zu integrieren. Davon hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Soziologe Georg Simmel geschrieben. Der Großstadtmensch muss sich von vielem abwenden, sonst erträgt er es nicht, und wird, so kann man es heute beobachten, zum kleinstädtischen oder gar dörflichen Typus.

Wer bewegt sich denn wirklich mal raus aus seinem Kiez (ehrliche Frage an alle gebürtigen Berliner: Benutzt man dieses Wort „Kiez“ überhaupt? Erbitte kundige Leserbriefe an fezÄTtazPunktde)? Raus also aus seinem Stadtteil, in dem man es so wunderbar kuschelig hat mit genau dem einen Café, das so einen sensationellen Hafermilch-Latte macht, dem einen Späti, bei dem man sich abends noch ein Gösser zischt, dem einen Dönertypen, den man sehr kumpelig Ali nennt, den paar Straßenzügen, die einem vorspiegeln, in der großen, weiten Welt zu sein – bisschen Graffiti, bisschen ranzig, das übliche Stillleben aus alter Matratze, marodem Röhrenfernseher und paar Regalbretterresten am Straßenrand.

Raus aus dem Kiez, raus aus dem Viertel, das heißt dann immer auch: Raus aus der Blase, in der man sich so wohlfühlt, und Blasen gibt es in Berlin durch ungebremste Segregationsprozesse viele. Berlin, das ist viele Kleinstädte, Dörfer sogar.

Lustig auch, weil viele hinzugezogene Berliner jede Gelegenheit nutzen, um diese Stadt zu verlassen, um ein an sich trostloses Brandenburger Dorf temporär übers Wochenende zu bevölkern, da ist es dann herrlich ruhig, da sieht man Natur, da hat man Platz – und sieht generös über den Nachbarn hinweg, der komische Fahnen im Garten hisst, im Flecktarn rumläuft und eine Partei wählt, die am liebsten den freiheitlich-demokratischen Charakter der Bundesrepublik zurückdrehen würde. Man kann ja eine Hainbuchenhecke anpflanzen am Grundstücksrand, dann kriegt man von dem nichts mit.

Diese permanente Stadtflucht aus Berlin hinaus ist teuer erkauft, so ein Häuschen dort im weithin abgegrasten Umland kostet inzwischen einiges, und man braucht Zeit, denn man muss den Stau beim Hinausfahren und bei der ­sonntagabendlichen Rückkehr einkalkulieren, der dann auch jeden Erholungswert verpuffen lässt.

Wie irgendeine Durchschnittsstadt

Kundige Leserinnen und Leser merken schon, dass auch ich hier aus einer Blase heraus schreibe, nämlich der Blase derer, die in den am meisten sozial durchgerüttelten Stadtvierteln wohnen, durchgerüttelt durch Zugezogene vor allem aus Westdeutschland: Kreuzberg, Neukölln, Teile von Schöneberg, Prenzlauer Berg natürlich, neuerdings das Fliegerviertel gegenüber vom alten Tempelhofer Flughafen und Wedding.

taz am wochenende

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Mitte nicht so sehr, weil das längst ein Kosmos für sich ist. Über die anderen Teile Berlins – grob gesagt jenseits des S-Bahnrings – schreibe ich nicht, weil diese Teile der Stadt eh wie Hannover sind oder Recklinghausen oder irgendeine Durchschnittsstadt. Das ist übrigens jener Teil der Stadt, in dem die piefige Berliner SPD bei der nächsten Abgeordnetenhauswahl punkten will. Keine schlechte Strategie, und wenn die Grünen nicht aufpassen, wird sie aufgehen.

Zwischen den Zeilen Lesende werden gemerkt haben, dass auch dieser Text eine einzige Selbsteinredung ist. Ein Abschiedstext, weil wir nach neun Jahren Berlin verlassen und in jene nordwestdeutsche Stadt zurückkehren, von der oben schon die Rede war. Und damit es nicht so schmerzt, fällt die These vielleicht wirklich etwas hart aus.

Berlin zerrt an mir und zehrt von mir. Es ist anstrengend, in so einer Metropole zu leben, die weiten Wege, der Lärm, die oft schlechte Stimmung, das Genörgel, das kostet Kraft. Aber da ist auch der Italiener gegenüber, den es in seiner Einfachheit und Echtheit eben nur hier gibt (auch noch in Köln, München, Hamburg), der vielen Gästen, die aus der Provinz nach Berlin kamen, immer noch erklären muss, dass seine Carbonara die echte ist, also wirklich ohne Sahne und Schinken, sondern mit Guanciale und Ei; da ist das Raue, in dem das Schöne verborgen liegt – was für ein Glück, wenn man es gefunden hat; da ist überall Geschichte, die die Brüche dieses Landes bewusst werden lässt; da ist das Foyer der Philharmonie – der schönste Raum, den man sich vorstellen kann. Da ist sehr vieles, was man in der kleinen Großstadt wirklich vermissen wird.

Berlin wird, so schwer es einem die Stadt manchmal macht, von dort aus wieder Sehnsuchtsort sein.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Felix Zimmermann
wochentaz
Geboren in Göttingen, hat Geschichte und Soziologie in Bielefeld, Madrid und München studiert, war auf der Henri-Nannen-Schule in Hamburg, anschließend Lokalreporter der Berliner Zeitung und deren Nahostkorrespondent in Tel Aviv und Ramallah. Nach der Rückkehr freier Journalist in Oldenburg für überregionale Zeitungen und Magazine und Gründer des leider eingegangen Onlinemagazins Oldenburger Lokalteil. Leitete von 2012 bis 2021 das taz-Wochenendressort, lebt wieder in Oldenburg.
Mehr zum Thema

2 Kommentare

 / 
  • ...der Italiener gegenüber...? .. in seiner Einfachheit und Echtheit ...?



    Streikt mein Satire-Detektor etwa schon wieder?

  • Nach 38 Jahren in Berlin sehe ich, dass es bei aller Segregation immer noch einen Freiraum bietet, den Westdeutschland so nicht hat und vor 38 Jahren so nicht hatte.



    Es gibt Vieles, was mich nervt und Vieles, was ich nicht missen möchte. Die meisten Kaputten, die hier herumlaufen, sind nach meiner Ansicht in der weltweiten "Provinz" produziert worden.