Kulturformate auf Youtube: Mehr Tiefgang im Netz
Öffentlich-rechtliche Kulturmagazine setzen neuerdings auf lange Youtube-Formate. Die Kulturreportage erlebt so eine Art Renaissance.
Die Künstlerin Moshtari Hilal ist in den vergangenen Wochen oft angegriffen worden, weil sie den Begriff „Nazi-Hintergrund“ kreiert hat. In der NDR-Reportage „‚Nie mehr leise‘: Für mehr Sichtbarkeit und Vielfalt in der Kultur“ bringt sie ihre Argumentation recht gut auf den Punkt: „Normalerweise sind wir die Personen, die immer wissen müssen, woher sie eigentlich kommen, wo ihre Wurzeln liegen. Mit Nazi-Hintergrund werfen wir die Frage nur zurück.“
Bei diesem Film über mangelnde Repräsentanz weiblicher People of Colour im Kulturbetrieb handelt es sich um ein neuartiges TV-Format. Seit April produziert das „Kulturjournal“ des NDR Fernsehens kurze Webdokus, die mittwochs ab 17 Uhr digital in der ARD Mediathek und im Doku-Kanal des NDR auf Youtube zu sehen sind – und dann jeweils am Montag darauf in der linearen Sendung. Dabei sind die Filme jeweils circa 15 Minuten lang – eigentlich zu lang für ein Kulturmagazin.
Die neuen Formate sind eine Reaktion auf die Nutzungsgewohnheiten im Netz: Die im Normalfall fünf bis sieben Minuten langen „Kulturmagazin“-Beiträge aus dem linearen Programm funktionieren online in der Regel nicht besonders gut. Das gesamte Konzept der Magazine mit ihrem Rhythmus Moderation-Beitrag-Zwischenmoderation-Beitrag ist aufs klassische Fernsehen ausgerichtet. Deshalb präsentiert der NDR seine Web-Dokus bei ihrer Onlinepremiere auch als eigenständige Filme, nicht im Magazin-Kontext.
Das Themenspektrum der neuartigen Reportagen reicht von gesellschaftlichen Fragen („Warum leiden immer mehr junge Menschen unter Einsamkeit?“) bis zu klassischen Kulturmagazin-Inhalten („Koloniales Erbe und Raubkunst: Was tun?“). Christoph Bungartz, der beim NDR die Abteilung Kultur und Wissen leitet, sagt: „Der NDR-Doku-Kanal bei Youtube erreicht ein anderes Publikum als die Sendung „Kulturjournal“ im Fernsehen. Die Zuschauerinnen und Zuschauer des TV-Magazins sehen den Beitrag nicht schon vorher online.“
Umgekehrt nimmt ein signifikanter Teil des Onlinepublikums die lineare Ausstrahlung nicht wahr. Auch danach stiegen die Zugriffszahlen im Netz noch, sagt Bungartz. Der Film über Einsamkeit bei jüngeren Erwachsenen erreichte mehr als 445.000 Zuschauer – mehr als die lineare Magazinsendung, in der er lief.
Langer Atem tut gut
Man kann hier fast von einer Art Renaissance der Kulturreportage sprechen – ein Genre, das im linearen Fernsehen keine nennenswerte Rolle mehr spielt. Lang ist nicht immer besser als kurz, aber wenn man an die manchmal unbefriedigende Länge der Kulturmagazin-Beiträge gewohnt ist, tut der relativ lange Atem eines 15-Minuten-Films gut. Es gehört zu den Ironien des Mediennutzungswandels, dass im vermeintlich oberflächlichen Netz Kultur-TV-Formate entstehen, die mehr Tiefe ermöglichen als die klassischen Sendungen – wobei diese – über den Weg der linearen Zweitverwertung – dann wiederum von den Neuentwicklungen profitieren können.
Christoph Bungartz vergleicht das mit einer anderen Entwicklung: der der Podcasts. Er sagt: „Der Podcast ist die Rache des Markts am starren Format-Radio.“ Für das galt lange die Regel, dass nicht zu viel am Stück geredet werden dürfe. Die Podcasts sind nun bekanntlich ein Beispiel dafür, dass man im Audio-Bereich Erfolg haben kann, wenn sehr viel geredet wird.
Ähnliche Wege wie der NDR will nun auch der Hessische Rundfunk gehen. Den Auftakt zu einer neuen Kulturoffensive machte hier kürzlich eine rund 20-minütige Web-Reportage über den Rapper Haftbefehl, die allein im Youtube-Kanal des Senders mehr als 1,2 Millionen Mal abgerufen wurde. In kurzen Fassungen war sie auch linear zu sehen.
Künftig plant der Hessische Rundfunk als Ergänzung zu seinem linearen Magazin „Hauptsache Kultur“ monothematische Doku-Mehrteiler. „Die sollen sich, ähnlich wie die Haftbefehl-Doku, tiefer mit kulturellen Phänomenen beschäftigen, die bisher zu wenig auf dem Radar der Öffentlich-Rechtlichen waren“, sagt Alf Mentzer, der dem fünfköpfigen Steuerungsteam der crossmedialen „Kulturunit“ des HR angehört. Derzeit in Planung: ein dreiteiliges Projekt mit dem Arbeitstitel „069 – Wie der HipHop nach Deutschland kam“.
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