Plague Raves in der Coronapandemie: Spreader on the Dancefloor
Trotz Corona legen DJs bei „Plague Raves“ in Tansania, Russland und Indien auf. Inzwischen ist darüber ein erbitterter Streit entbrannt.
Inmitten grüner Palmen legt ein Star-DJ CDs auf. Rotes Strobolicht fällt auf die Menge vor ihm. Sie tanzt, johlt und schwitzt enthemmt zum Sound. Die Szene stammt nicht etwa von einer unbeschwerten Partynacht vor der Coronapandemie. Es handelt sich um eine Auftritt des Offenbacher Promi-DJs Sven Väth vor wenigen Wochen im indischen Goa. Masken und Sicherheitsabstand sucht man unten den Anwesenden auf der Tanzfläche vergeblich.
Ähnliche Szenen haben sich in den letzten Monaten auch in Mexiko und Tansania, in der Ukraine, Russland und selbst in Miami abgespielt. Künstler*innen, die auf solchen Veranstaltungen spielen, sind alles andere als unbekannt: Zugpferde wie Ricardo Villalobos, Dixon, Âme, Tale of Us, Adana Twins und Charlotte de Witte tauchen in den Line-ups auf.
Es sind vor allem Topverdiener*innen der Szene, die in den vergangenen Monaten trotz Corona aufgelegt haben. Die Techno-Community diskutiert im Netz erbittert, und fand für diese Partys die Bezeichnung „Plague Raves“, Pest-Raves also. Der Begriff stammt von der „rave flu“ ab, die Krankheitssymptome nach durchfeierten Clubnächten beschreibt. Plague Raves beschreiben sämtliche Partys während der Pandemie, die das Risiko bergen, sich und andere mit Corona anzustecken.
Im Fokus der Debatte stehen dabei aber nicht etwa legale Raves mit Hygienemaßnahmen, die es im letzten Jahr auch in Berlin gab. Sie dreht sich besonders um Partys, die in Ländern des Globalen Südens abgehalten wurden. Die meisten dieser Veranstaltungen finden in Tulum (Mexiko), Sansibar (Tansania) sowie Goa und Hyderabad (Indien) statt. Jene Länder machen Großveranstaltungen dank lockerer Coronapolitik im legalen Rahmen möglich. In den Flyern, die jene Events bewerben, sind zwar Informationen über Sicherheitsabstand und Maskenpflicht abgedruckt, auf den Videos von den Partys ist davon jedoch nichts zu sehen.
Business-Techno ohne Kompass
Die Entscheidung von Star-DJs, in solchen Ländern aufzulegen, wird von Kolleg*innen wie Fans gleichermaßen scharf kritisiert. „Viele dieser reichen Business-Techno-DJs, die auf Plague Raves spielen, haben keinen moralischen Kompass. Das wird nun während der Pandemie besonders gut sichtbar. Hier trennt sich für uns die Spreu vom Weizen“, sagt Gernot Bronsert vom Berliner Elektronik-Duo Modeselektor. Erst kürzlich veröffentlichte es sein Mixtapealbum „Extended“, eine Hommage an die musikalische Sozialisation im Speckgürtel Berlins der 1990er Jahre.
Konkurrierende DJs aus der Hauptstadt fliegen dagegen nonstop um die Welt, als gäbe es keine Pandemie. Zu ihren Sets feiern vor allem Party-Tourist*innen, die dem Corona-Alltag ihrer Heimatländer entfliehen möchten. Die Schweizer Booking-Agentur Musiqtrip lud im März in Kooperation mit dem berühmten Club Amnesia auf Ibiza gar zu einer All-inclusive-Reise nach Sansibar ein. Die billigste Ticketoption kostete 150 Euro. Highlight der zehntägigen Reise: ein intimer Sandbank-Rave mit der chilenischen Techno-Ikone Ricardo Villalobos.
Mangel an Beatmungsgeräten
Wenige Tage nach dem Event starb der tansanische Präsident John Magufuli an einer Coviderkrankung. Unter seiner Führung verzichtete Tansania seit April 2020 auf Statistiken zu Coronafällen und Todeszahlen, Impfungen gibt es bis heute nicht. Auch in Indien steigt derweil der Bedarf an Betten auf Intensivstationen und Beatmungsgeräten. Dessen ungeachtet lud das Kollektiv Business Teshno von Villalobos’ Sandbank-Rave und weiteren Partys auf Twitter und Instagram Videomitschnitte hoch.
Aktivist*innen machen anhand wissenschaftlicher Recherche die Plague Raves dagegen für steigende Coronafallzahlen in den Partyländern sowie für die Verbreitung von Mutationen verantwortlich. Klar ist, die allermeisten Künstler*innen, Labels und Booker*innen warten im Lockdown selbstverständlich ab, bis der Normalbetrieb in der Dancefloor-Szene irgendwann wieder anlaufen kann.
Es sind viel mehr als diejenigen, die an Plague Raves Verantwortung tragen und teilnehmen. „Aber letztendlich schadet ihr Treiben der ganzen Community“, kritisiert Gernot Bronsert von Modeselektor das unverantwortliche Verhalten seiner Kolleg*innen. Seit Beginn der Pandemie haben Modeselektor sämtliche Auftrittsanfragen abgelehnt. Das Duo wird erst wieder auflegen, wenn Impfungen und die Infektionslage der Pandemie es zulassen.
Raves in Risikogebieten
Auch die Booker*innen des Berliner Kollektivs Live From Earth nehmen derzeit keine Anfragen für Raves in Risikogebieten an. „Es gab einige Anfragen für illegale Events, welche klar gegen die Coronamaßnahmen des jeweiligen Landes verstoßen hätten und mit den Fallzahlen nicht zu vereinbaren gewesen wären“, sagt der Booker Michel Thies. Das Kollektiv bucht derzeit nur Livestreams, seit Beginn der Pandemie ist keiner ihrer Künstler*innen im Ausland aufgetreten.
Andere DJs und Booking-Agenturen können die Füße weniger gut still halten. Besonders umtriebig ist der Berliner Produzent und DJ Dixon. Seit den 1990er Jahren legt er als House-DJ auf, führt mit seinen DJ-Kollegen Âme das Label Innervisions und hat eine eigene Modelinie. Kostenpunkt für ein Sweatshirt: 198 Euro. Sein Label Innervisions möchte sich gegenüber der taz nicht zu dessen Auslandsauftritten äußern. Aus dem Mailverkehr geht allerdings hervor, dass man sich durchaus der Brisanz solcher Aktionen bewusst ist. Warum Gigs trotz anhaltender Kritik gebucht werden, bleibt allerdings unklar.
Das laute Schweigen der Verantwortlichen, ob zur Teilnahme an Plague Raves oder zu ihrem Standing innerhalb der Szene, lässt jedoch darauf schließen, dass die Auftritte finanzielle Hintergründe haben. Um Geldsorgen wird es sich bei den derzeitigen Auftritten der DJs wohl kaum handeln. Vielmehr geht es darum, noch mehr Geld zu scheffeln.
Gekaufte Follower:Innen
In der Dancefloor-Szene ist dieses Phänomen als „Business Techno“ bekannt. Kritisiert werden Markenkooperationen, gekaufte Follower*innen bei Social Media und Auftritte in autoritären Staaten. Die Sorglosigkeit von DJs während der Pandemie scheint nur die Speerspitze des Phänomens zu sein. Live-From-Earth-Labelbetreiber Jacob Bauernfeind fordert von den Verantwortlichen Solidarität mit den Akteur*innen der Clubkultur, die auf ihr finanzielles Überleben wie die Rückkehr eines sicheren Geschäftsbetriebs hoffen.
„Ich glaube, es geht hier auch um Verantwortung. Je strikter wir uns an die Regeln halten, desto schneller geht’s für alle. Deswegen halte ich es auch für ungemein wichtig, dass gerade die Großen in dem Geschäft, die in den letzten Jahre sehr viel Geld verdient haben, sich solidarisch zeigen mit der Basis und sich nicht verleiten lassen, in der Mitte der Pandemie um die Welt zu reisen und Shows zu spielen“, sagt Bauernfeind.
Während Modeselektor und Live From Earth das Verhalten ihrer Kolleg*innen anprangern, möchte sich keiner der verantwortlichen Künstler*innen und Bookingagenturen öffentlich zur Debatte äußern. Ein Künstler, der auf Sansibar auflegt, begründet seine Absage gegenüber der taz mit der Angst vor einem Shitstorm. Dabei ist es ohnehin unerträglich: Auch wenn sich prominente DJs selbst nicht äußern wollen, postet Business Teshno täglich neue Mitschnitte von Plague Raves.
Ob jene Videos überhaupt das ganze Ausmaß dieser verabscheuenswerten Events widerspiegeln? Gernot Bronsert berichtet von einem Fotoverbot, das DJs jüngst auf Plague-Rave-Partys einfordern: „Genau diejenigen, die vor der Pandemie wollten, dass Kids auf dem Dancefloor ihre Telefone rausholen, um einen Clip von ihnen auf Instagram hochzuladen, wollen das auf einmal nicht mehr. Jetzt gibt es eine No-Photo-Policy, um nicht dabei gesehen zu werden, wie sie in einem Land auflegen, in dem es wahrscheinlich nicht mal genug Sauerstoffflaschen gibt, geschweige denn ein funktionierendes Gesundheitssystem vergleichbar mit dem in Europa.“
Gut möglich, dass die Plague-Rave-Partys in den nächsten Monaten abseits der Handykameras weiterlaufen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Verkehrsvorbild in den USA
Ein Tempolimit ist möglich, zeigt New York City
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich