Schulsenatorin verteidigt Schulöffnungen: „Es wird Lernlücken geben“
Die Schulen zu öffnen ist richtig, sagt Berlins Bildungssenatorin Scheeres (SPD). Schulschließungen bei einer 165er-Inzidenz nennt sie „willkürlich“.
taz: Frau Scheeres, die 7-Tage-Inzidenz in Berlin liegt aktuell bei 151, am Mittwoch will der Bundestag eine Notbremse beschließen, die Schulschließungen ab einem Inzidenzwert von 165 vorsieht. Dennoch haben Sie am Montag die letzten Jahrgänge zurück in den Wechselunterricht geholt. Wie können Sie das verantworten?
Sandra Scheeres: Die Klassen 7 bis 9 waren über vier Monate nicht in der Schule – und ich habe mich sehr dafür stark gemacht, sie zurückzuholen. Am Anfang ist behauptet worden, die Jugendlichen bekämen das alles locker hin. Übersehen wurde zuweilen, wie wichtig der direkte Kontakt zu Mitschülern und Lehrkräften für Schülerinnen und Schüler gerade in diesem Alter ist. Stattdessen saßen die Schülerinnen und Schüler lange Zeit zu Hause, das machte mir Sorgen. Ein noch so gutes digitales Lernen zu Hause ist kein vollständiger Ersatz für das gemeinsame Lernen in der Klasse. Und zur Notbremse: Wenn das jetzt so entschieden wird, dann ist das so.
Finden Sie die Grenze zu hoch – oder zu niedrig?
Wenn man auf Bundesebene etwas regeln will, dann müssen die Länder damit umgehen. Eigentlich hatte es ja geheißen, die Länder können das selbst entscheiden. Die Inzidenz von 165 ist eine willkürlich gegriffene Zahl, die für Schülerinnen und Schüler auch problematische Auswirkungen haben wird. Ich verstehe nicht, dass man Schulen früher schließt als Bereiche in der Wirtschaft, obwohl wir für die Schulen eine viel umfangreichere Teststrategie entwickelt haben. Für mich ist erstmal wichtig, dass die 7. bis 9.-Klässler einen Fuß in die Tür bekommen.
Das klingt nicht so, als ob Sie eine Freundin der Notbremsen-Idee wären.
Wir achten auf die Inzidenzen und nehmen diese sehr ernst. Das ist klar. Ich sehe es nur so, dass man noch andere Dinge mit in den Blick nehmen sollte als nur die Inzidenz – etwa das lokale Ausbruchsgeschehen am Ort der Schule selbst. Ich glaube, dieser Meinung sind viele.
Werden Sie gegen eine Kompetenzverletzung durch den Bund klagen?
Nein, wieso? In den Beratungen sitzen schließlich auch die Ministerpräsidenten und -präsidentinnen der Länder. Und von Seiten der Kultusministerkonferenz geben wir ihnen immer wieder sehr deutlich zu verstehen, dass wir die Schulen so lange offen halten wollen, wie wir das verantworten können – das ist Konsens, ungeachtet der Partei.
Wenn die Notbremse bei einer 165er-Inzidenz kommt, betrachtet man dann Berlin als Ganzes? Oder geht es um die Zahlen in den einzelnen Bezirken?
Das wäre ja dann die Rückkehr zu unserem Berliner Stufenplan für die Schulen, den hatten wir im Herbst, als die Schulaufsichten gemeinsam mit den bezirklichen Gesundheitsämtern mit Blick auf jede Schule entschieden haben. Dieser Stufenplan ist jetzt ausgesetzt. Wir sind in einem bundesweiten Lockdown! Berlin soll nun nach den derzeitigen Planungen als Ganzes bewertet werden und bundesweit die RKI-Inzidenz zugrunde gelegt werden.
Glauben Sie denn, dass die 7.-9.KlässlerInnen in zwei Wochen noch in der Schule sind?
Ich kann nicht in die Glaskugel schauen. Die Inzidenz ist nicht niedrig. Natürlich kann in zwei Wochen die Situation anders sein. Deshalb sind wir bisher immer in Stufen vorgegangen und haben bei jedem Öffnungsschritt gesagt: vorbehaltlich des Infektionsgeschehens. Die Lage ändert sich rasant schnell, denken Sie an die Virus-Mutanten, die alles unberechenbarer gemacht haben. Ich weiß, dass es der Wunsch vieler Menschen ist, langfristig planen zu können – nur geht das in der Krise oft nicht. Aber nochmal: Ich mache mich jeden einzelnen Tag für die Schule stark.
War es ein Fehler, eine Woche vor den Osterferien die Jahrgänge 10-13 und die Klassen 4-6 zurückzuholen? Das sind jetzt die Altersstufen mit den höchsten Inzidenzen.
Ich gehe mit genau diesen Fragestellungen in die Runde der Amtsärzte, ich berate mich mit dem Verband der Kinderärzte, mit Experten der Charité. Wir stellen weiterhin nur wenige Sekundärfälle in den Schulen fest. Die Ansteckungen finden oft im familiären Umfeld statt. Im Übrigen bin ich froh, dass die psychologische Belastungssituation von Jugendlichen zuletzt stärker in den Blick geraten ist. Das muss man sehen und abwägen, wenn man über Schulschließungen spricht. Ich möchte mich da auch nochmal bei den Jugendlichen bedanken: Was sich für sie innerhalb von ein oder zwei Jahren alles abspielen kann – das können junge Menschen in diesem Alter kaum nachholen. Es ist ein hoher Preis, den die Jugendlichen gerade zahlen. Ich finde diese Generation sehr solidarisch.
Es gibt immer wieder kritische Stimmen, die auf Partys in Parks hinweisen – und auch die Inzidenzen in der Altersgruppe weisen doch eher darauf hin, dass sich da viel getroffen wird.
Sicher, manche treffen sich. Aber ich erlebe es schon so, dass sich viele der jungen Leute sehr einschränken: nicht mit den Kumpels in den Urlaub fahren, nicht ihre Geburtstage feiern. Da sind viele Kinder und Jugendliche vernünftiger als manche Erwachsene.
Seit Montag müssen sich die SchülerInnen zweimal pro Woche in der Schule selbst testen. Der Unmut darüber bei vielen Eltern und LehrerInnen ist enorm – sie sagen, das Testen zu Hause sei sicherer. Können Sie diese Diskussion nachvollziehen?
Meine erste Entscheidung war ja genau die, dass Schülerinnen und Schüler sich selbst zu Hause testen. Dann gab es aber eine kontroverse Diskussion, weil einige gesagt haben: Man weiß doch gar nicht, ob die Eltern das kontrollieren. Oder ob Schüler vielleicht Testkits verkaufen. Daraufhin hatten wir den Senatsbeschluss, in Zusammenhang mit der Öffnung für die 7. bis 9. Klassen die Tests in den Schulen zu machen. Das war der Wunsch aus der Koalition. Beide Wege haben Vor- und Nachteile.
Hätten Sie die vorige Regelung mit dem Testen zu Hause besser gefunden?
Ich fand es richtig, diesen Weg zu gehen. Aber Sie sehen ja: Egal, was man entscheidet, gibt es Meinungen dafür oder dagegen. Man bekommt nie die komplette Elternschaft oder Lehrerschaft hinter einen Beschluss. Da hat sich in den letzten Monaten auch etwas verändert.
Ja?
Ja, am Anfang gab es einen größeren Konsens für Entscheidungen, die getroffen wurden. Die Position war: Wir schaffen das gemeinsam. Es gab zu Beginn der Pandemie eine Phase großer Einigkeit in den Schulen, die ich so noch nicht erlebt habe in meiner Zeit als Senatorin. Aber das hat sich inzwischen geändert.
Können Sie das Argument verstehen, dass viele es falsch finden, potenziell positive Kinder zum Test in die Schule zu schicken?
Ja klar, die Kinder sind mobil, und das ist erst mal ein Risiko. Es gibt aber auch das Argument, dass man eine höhere Sicherheit und Verlässlichkeit hat, wenn man die Kinder vor Ort testet. Ich habe das durchdiskutiert mit Medizinern. Man hat immer ein Für und Wider.
Der Virologe Christian Drosten, der den Senat auch berät, hat zuletzt die Qualität der Selbsttests sehr infrage gestellt. Bei Infizierten, die noch keine Symptome zeigen, schlagen die Tests nicht an.
Das sagt Herr Drosten nicht erst seit Kurzem. Die Tests geben keine absolute, aber zumindest eine größere Sicherheit, insofern sind sie ein wichtiger zusätzlicher Baustein.
Die Frage ist ja, wie stabil ist der Baustein, mit dem man etwas rechtfertigt – in dem Fall die Schulöffnungen.
Wir haben viele Bausteine. Wir haben die Maskenpflicht, Lüftungskonzepte, unsere Kinder sitzen mit Abstand in der Schule. Es gibt gerade keinen gesellschaftlichen Bereich, der vom Hygienekonzept her so durchorganisiert ist wie die Schulen. Allein die Anzahl der Tests: Wir stellen pro Woche mehr als eine Million Tests in den Schulen zur Verfügung – die Selbsttests der Schüler und die Tests beim Personal.
Wenn wir mal zurückblicken, ein Jahr Pandemie – haben Sie alles richtig gemacht?
In einer solchen Pandemie kannst Du nie alles richtig machen, weil wir ja ständig dazulernen mussten. Ich glaube, eine sehr lehrreiche Erfahrung für mich war, dass die Gremien, die mich beraten – Schulleiterverbände, Bezirkselternausschüsse – vielstimmiger und facettenreicher geworden sind in der Pandemie. Ich habe gesehen, dass ich Entscheidungen anders abstimmen muss.
Kann man eigentlich sagen, wie viel Unterrichtsstoff durch die Corona-Schuljahre ausgefallen ist?
Das ist schwierig zu sagen, weil das sehr davon abhängt, wie intensiv die einzelne Lehrkraft digital unterrichtet hat und wie das einzelne Kind damit klarkommt. Und wir wissen ja, dass gerade sozial benachteiligte Kinder in der Pandemie doppelt benachteiligt sind, wenn sie zu Hause wenig Unterstützung bekommen.
Trotzdem: Wenn man planen muss, was nachgeholt wird – wo fängt man da an?
Wir werden verpflichtende Lernstanderhebungen an den Schulen machen und gezielt Lernförderung anbieten. Aber klar ist: Es gibt auf jeden Fall Lücken. Keiner kann behaupten, dass es über diesen langen Zeitraum keine Lernlücken gibt.
Müssen die Kinder die aufholen? Oder sagen Sie, mit denen wird die Schule halt künftig leben müssen?
Natürlich geht es künftig auch darum, Lücken zu schließen. Nur: Wie lange das dauert, ist ein individuelle Sache.
Man muss also davon ausgehen, dass diese Generation gewisse Wissenslücken haben wird?
Die Lücken sind da, sie sind unterschiedlich groß, und es wird unterschiedlich lang dauern, diese Lücken zu schließen.
Hat diese SchülerInnengeneration dafür etwas anderes gelernt?
Definitiv. Und zwar alle, nicht nur die Jugendlichen, sondern auch die Kleinen. Die Älteren haben viel dazu gelernt im Bereich selbst organisiertes Lernen und auch im Bereich Digitalisierung. Etwa, wie man am besten in Videokonferenzen kommuniziert. Das gleiche gilt für die Lehrkräfte. Solche Konferenzen gab es vorher in dieser Form eher selten.
Relativ wenig wird diskutiert über den Leistungstand jener Kinder, die jetzt nach der Kita in die erste Klasse kommen. Ihre Betreuung hat stark geschwankt. SchulleiterInnen sagten von dem letzten Schulstart, dass jene Erstklässler ganz anders angekommen seien – es wurde etwa von Defiziten beim Halten des Stiftes berichtet. Haben Sie Informationen, wie der Leistungstand aktuell bei den Vorschulkindern ist?
Wir legen sehr viel Wert darauf, dass Vorschulkinder Betreuung bekommen. Als wir mit den Kitas leider zurück in die Notbetreuung gehen mussten, haben wir dafür gesorgt, dass für Vorschulkinder eine Ausnahmeregelung gilt. Sie sollen in diesen letzten Kitawochen eine Struktur haben. Für sie ist wichtig, dass der Übergang klappt und sie sich von ihrer Kita verabschieden können. Aber eine Erfassung, wie ihr Leistungsstand ist, haben wir nicht.
Es zeigen sich immer neue Entwicklungen von Corona. Wann rechnen Sie damit, das ganze Ausmaß überblicken zu können?
Das wird dauern. Es gibt Lernlücken; Kinder und Jugendliche müssen psychologisch stabilisiert werden. Auch Lehrkräfte anderer Klassen, der zweiten, der vierten, der sechsten, der siebten, berichten von Defiziten, und darauf müssen sich jetzt alle einstellen. Wir müssen uns noch individueller auf die Kinder konzentrieren. Und manche Sachen, die wir bisher vorausgesetzt haben, kann man jetzt einfach nicht mehr voraussetzen, denn wir waren ein ganzes Jahr im Krisenmodus. Jede Schülerin, jeder Schüler hat das unterschiedlich erlebt. Und ich würde mir auch nicht anmaßen sagen zu können, wann wir diese Defizite aufgeholt haben.
Sie sagen: „Wir waren im Krisenmodus.“ Das klingt, als seien Sie guter Hoffnung, dass die Krise bald vorbei ist.
Nein. Das Schlimme ist ja, dass man eben nicht weiß, wann es vorbei ist. Das ist das Anstrengende für alle. Meine Mitarbeiter arbeiten seit einem Jahr extrem hochtourig, oft auch am Wochenende. Aber ich kann ihnen nicht sagen, wann das vorbei ist. Ich bin beeindruckt, wie motiviert hier alle trotzdem noch sind. Ich spüre kein Nachlassen.
Eine Gruppe SchülerInnen, die es fast geschafft hat, sind die AbiturientInnen. Am Mittwoch beginnen die Prüfungen, Unterricht findet keiner mehr statt. Sie haben auch Abi gemacht. Wenn Sie zurückblicken: Würden Sie mit diesem Abi-Jahrgang tauschen wollen?
(überlegt) Die Vorphase ist wirklich schwierig gewesen. Die Abiturientinnen und Abiturienten haben sehr viel zu Hause und alleine lernen müssen. Sie konnten nicht in größeren Gruppen zusammen arbeiten, so wie wir das damals gemacht haben. Es tut mir leid für die Schülerinnen und Schüler, dass das nicht möglich war. Es ist ein anderes Lernen: Die Gruppendynamik, dass man etwas gemeinsam schafft und sich gegenseitig motivieren kann, fehlt.
Ist diese Abiturprüfung gerecht?
Es war richtig, dass die BildungsministerInnen ein anerkanntes Abitur haben wollten. Denn es wäre fatal gewesen, wenn dieser Jahrgang nur ein Not-Abi hätte machen können, mit dem man nicht überall hätte studieren können. Gleichzeitig war ich beeindruckt, wie kämpferisch sich die Abiturientinnen und Abiturienten dafür eingesetzt haben, ihren Abschluss machen zu können und dafür zum Beispiel mehr Präsenzunterricht haben zu wollen – auch gegen die Positionen von einzelnen Schulleitungen. Beim Abitur geht es um die Schülerinnen und Schüler! Und wir haben die Möglichkeit geschaffen, eine Prüfung wiederholen zu können: Wenn Sie sagen, ich pack das jetzt nicht, haben sie eine Chance mehr. Wir ziehen das nicht so durch wie immer. Das finde ich gerecht. Der nächste Abiturjahrgang wird übrigens noch schwieriger.
Warum das?
In diesem Jahr hat sehr viel Unterricht nicht stattgefunden. Das müssen wir genau analysieren. Ich wollte damit vor allem sagen, dass das Thema Prüfungen nach diesem Jahr keineswegs erledigt ist.
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