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Pop-up-Fahrradwege auf dem VormarschSeit einem Jahr bewegt sich was

Mit Corona entstanden die ersten temporären Radwege. Für den weiteren Ausbau liefert ein Berliner Rechtsstreit anderen Städten wichtige Erkenntnisse.

Bahn frei: Pop-up-Radweg am Halleschen Ufer in Berlin-Kreuzberg Foto: Karsten Thielker

Die Esslinger Ra­dak­ti­vis­t:in­nen hatten das Gefühl, dass die Stadtverwaltung sie ärgern wollte. Die De­mons­tran­t:in­nen sollten ihren Protest auf einer Spur der stark befahrenen Ringstraße selbst professionell absichern. Die Anmelder:in­nen zogen vor das Verwaltungsgericht Stuttgart. „Das hat die Stadt dazu verdonnert, für vier Stunden eine Absicherung aufzustellen“, berichtet Petra Schulz vom ökologischen Verkehrsclub (VCD) Esslingen.

Die Stadt musste damit kurzzeitig das machen, wofür die Ak­ti­vis­t:in­nen demonstrierten: einen sogenannten Pop-up-Radweg anlegen. Der Protest der Bür­ge­r:in­nen war aber auch längerfristig erfolgreich: Im August entsteht auf der Esslinger Ringstraße ein temporärer Radweg für einen 12-monatigen Probebetrieb.

Wer will, der findet einen Weg. Wer nicht will, der findet Gründe

David Grünewald, Radentscheid Darmstadt

Vor einem Jahr sind die ersten temporären Radwege entstanden, die für die Ra­dak­ti­vis­t:in­nen in Esslingen ein Vorbild waren. Mitte März machte die kolumbianische Hauptstadt Bogotá den Auftakt, schnell folgte Berlin. Paris, Manchester, Edinburgh, Budapest oder das albanische Tirana – viele Städte reagierten im vergangenen Frühjahr auf die steigende Zahl der Menschen, die aus Angst vor einer Ansteckung in Bus und Bahn aufs Rad umgestiegen waren.

Mit der Neuverteilung des Straßenraums sollten Rad­le­r:in­nen sicherer unterwegs sein. In etlichen Städten wurden mit Hilfe von farbigen Tape-Bändern oder rot-weißen Baken und Kegeln Streifen von Straßen abgetrennt, die für Rad­le­r:in­nen reserviert wurden – die sogenannten Pop-up-Radwege.

Die Bilder liefen beim Kurznachrichtendienst Twitter hoch und runter. In Berlin wurde die Entwicklung von Felix Weisbrich, dem Leiter des Grünflächenamts in Friedrichshain-Kreuzberg, vorangetrieben, also von der Verwaltung. Das ist eine Ausnahme. In Deutschland kämpfen ansonsten Bür­ge­r:in­nen für bessere Radwege. Bislang dauert es von der Planung bis zum Bau viele Jahre, bis neue entstehen. Die provisorischen Radwege dagegen schaffen schnell Fakten. Ak­ti­vis­t:in­nen hoffen, dass das so überzeugend ist, dass sie bleiben. In Berlin wird das vielfach so sein, in anderen Städten versuchen Bürger:innen, das zu erreichen.

Enormer Auftrieb

In den vergangenen Jahren ist eine engagierte Rad­le­r:in­nen­be­we­gung enstanden, die 2020 enormen Auftrieb erhalten hat. Vielerorts schließen sich Leute in sogenannten Radentscheiden zusammen, sie sammeln Unterschriften und machen Aktionen für eine bessere Infrastruktur. Allein unter dem Dach der Initiative Changing Cities sammeln sich 40 Radentscheid-Gruppen, die seit 2015 entstanden sind. Davon sind allein im vergangenen Jahr 14 neue hinzugekommen, so viele wie noch nie.

Auch David Grünewald vom Radentscheid Darmstadt sah die Bilder aus Berlin und Bogotá. „Da dachte ich: Was da geht, das geht auch hier“, sagt er. Am 25. März des vergangenen Jahres stand der erste Pop-up-Radweg in Berlin, zwei Tage später gab es die erste Fahrrad-Demo in Darmstadt für die Einrichtung temporärer Radwege. Grünewald und seine Mit­strei­te­r:in­nen zeigten, was sie wollten: Als Ort der Veranstaltung meldeten sie Fahrstreifen an befahrenen großen Straßen an, die sie mit rot-weißen Kegeln abtrennten. Die Stadt nahm das hin. „So konnten wir zeigen, wie es gehen könnte“, sagt der 30-Jährige.

Das war das Vorbild für die Esslinger Gruppe. Wie dort brauchte es auch in Darmstadt noch mehr Nachdruck vonseiten der Aktivist:innen, bis die Stadtverwaltung einlenkte. Im August wurden mit gelben Baustellenmarkierungen zwei temporäre Radwege angelegt, auf dem vielbefahrenen Cityring und einer weiteren Straße, außerdem Pop-up-Radwege an zwei Kreuzungen. Ein weiterer soll noch kommen.

Bislang waren wenige Initiativen in Deutschland so erfolgreich wie die Darmstädter oder die Esslinger. Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) schätzt, dass es hierzulande etwa 40 Kilometer Pop-up-Radwege gibt – in Frankreich sind es nach Angaben der Organisation 400. „In Deutschland ist noch viel Luft nach oben“, sagt Robin Kulpa, Radexperte der DUH. Allein in Berlin wurden rund 25 Kilometer angelegt, vor allem in Friedrichshain-Kreuzberg. In anderen Städten wie München, Stuttgart oder Krefeld, Nürnberg, Fürth und Traunstein sind einzelne Pop-up-Strecken entstanden.

Der ADAC hat seine Probleme

Auch wenn 40 Kilometer Pop-up-Strecken vergleichsweise wenig sind, ist im vergangenen Jahr viel gewonnen worden, sagt Kulpa. Es werden auch in Deutschland noch etliche Kilometer hinzukommen. „In vielen Städten wird über neue Radwege diskutiert.“ Die DUH hat in zwei Etappen mehr als 230 Städte angeschrieben und aufgefordert, Pop-up-Radwege anzulegen, viele auf Vorschlag von Bürger:innen. „Wir regen in vielen Städten Diskussionen an“, sagt er.

Ein Grund für den schleppenden Ausbau hierzulande: Anders als etwa in Frankreich ist der Ausbau der Radinfrastruktur in Deutschland sehr schwierig, sagt Kulpa. „In Frankreich macht es die Gesetzgebung einfacher, temporäre Pop-up-Radwege einzurichten.“ Die deutsche Straßenverkehrsordnung (StVO) ist völlig auf das Auto fixiert. Alles, was den fließenden Verkehr – und damit ist der Autoverkehr gemeint – stören könnte, gilt als begründungsbedürftig.

Auch Radwege. Sie können nicht einfach gebaut werden, etwa weil eine Kommune die Verkehrswende vorantreiben oder Bür­ge­r:in­nen vor Lärm schützen möchte. „Es muss eine Gefahrenlage geben“, erklärt Rad­experte Kulpa. Ist die nachgewiesen, folgt in der Regel ein aufwendiger Planungsprozess mit Machbarkeitsstudien und Variantenvergleichen – eine langwierige Sache. Die Pop-up-Radwege zeigen, dass es auch schnell gehen kann.

Nicht alle mögen die temporären Radwege. Der Autoverband ADAC etwa findet den regulären Planungsweg besser. In Berlin ist ein AfD-Politiker gegen die Einrichtung der Pop-up-Wege vor Gericht gezogen. Mittlerweile hat er seine Klage zurückgezogen. Das Gericht hatte klar gemacht, dass sie nicht erfolgreich sein würde. Denn der Senat hat die Einrichtung der Wege ausführlich begründet.

Laufen als Verkehrsversuch

„Durch die Klage sind viele Städte verunsichert worden“, berichtet Kulpa. „Sie wollten erst einmal abwarten, wie das ausgeht.“ Gebracht hat das Verfahren immerhin eines: jede Menge rechtliche Expertise. Die DUH hat zu Beginn des Verfahrens ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben, das sie jetzt Ra­dak­ti­vis­t:in­nen und Verwaltungen zur Verfügung stellt.

Denn trotz der radwegefeindlichen StVO ist es auch heute möglich, schnell und unbürokratisch neue Strecken anzulegen. „Wer will, der findet einen Weg. Wer nicht will, der findet Gründe“, sagt der Darmstädter Grünewald. Dort nutzte die Verwaltung eine Erprobungsklausel in der Straßenverkehrsordnung. Die temporären Radwege laufen als Verkehrsversuch.

Um ihre Forderung durchzusetzen, konnten die Darmstädter auf die Vorarbeit des Berliner Senats zurückgreifen. Die Verwaltung hatte einen Leitfaden für die Errichtung von Pop-up-Radwegen ins Internet gestellt. „Die war zwar gedacht für die Berliner Bezirke, aber die Straßenverkehrsordnung gilt ja überall“, sagt er. Verwaltungen haben nach seinen Erfahrungen oft Probleme, Neuland zu betreten. Vorbilder aus anderen Städten helfen enorm. Und auch der Blick ins Ausland könnte zeigen, dass viel mehr möglich ist.

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8 Kommentare

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  • schöner informativer Artikel

  • leider bewegt es sich viel zu langsam! Obwohl es Studien gibt, dass die Kaufkraft der Innenstädte davon profitiert, wenn der Radverkehr gestärkt wird, reagieren in den Verwaltungen viele mit dem reflexhaften "man muss mit dem Auto vor den Laden fahren können" und wegen des altersbedingten Aufstiegs sitzen solche Leute auf Bürgermeister- und Amtsleiterposten ...

  • Es ist gut, dass wir uns auf sinkenden Wohlstand einstellen. Fahrräder werden in Städten das Verkehrsmittel der Zukunft sein. Auto und Nahverkehr werden immer teurer. Welch angenehme Zukunftsvisionen.

    • @TazTiz:

      Autofahren hat nichts mit Wohlstand zu tun. Allerdings ist diese Annahme ein Problem, weil viele die durchaus vom Radfahren profitieren würden, das nicht tun, weil sie sich damit sozial deklassiert fühlen. Ist ein Bildungsdefizit.

  • Nicht jeder ist fit und gesund genug, um bei jedem Wetter Fahrrad zu fahren. Wer Corona zum Anlaß/Vorwand nimmt, um Autofahrern das Leben schwerer zu machen,



    der trägt dazu bei, daß die Menschen dazu gedrängt werden, Busse und Bahnen statt dem eigenen Auto zu benutzen. Das ist nun das genaue Gegenteil von dem, was zwecks Coronabekämpfung sinnvoll wäre. Um Corona einzudämmen, muß man Situationen vermeiden, wo viele Menschen zusammenkommen. Konkret: Man muß den ÖPNV zurückdrängen. In Zeiten der Pandemie ist es wünschenswert, daß möglichst viele Menschen ihr eigenes Auto (oder auch Fahrrad) benutzen, und möglichst wenige die öffentlichen Verkehrsmitttel.

    • @yohak yohak:

      Die meisten sind aber fit genug um Rad zu fahren und profitieren gesundheitlich auch noch sehr davon. Und wenn diejenigen Rad fahren, die dazu in der Lage sind, dann ist mehr Platz für diejenigen, die wirklich aufs Auto angewiesen sind. Einfach nachzuvollziehen aber die Bequemlinge konstruieren sich leider andauernd fadenscheinige Gegenargumente zusammen.

  • Wer laut schreit wird weit gehört auch wenn es nur Wenige sind ...

    • @Bolzkopf:

      Solche Aussagen angesichts einer total ungerechten, eigentlich eines demokratischen Staates völlig unwürdigen Verkehrsordnung völlig grotesk. Am lautesten schreit doch die Autolobby.