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60. Jahrestag des Eichmann-ProzessesDer Prozess, der Geschichte schrieb

Vor 60 Jahren begann in Jerusalem das Verfahren gegen Adolf Eichmann. Der Strafprozess schuf die Grundlagen für eine Verfolgung vieler NS-Straftäter.

Adolf Eichmann wird in Jerusalem von seinem Anwalt Robert Servatius (links) vernommen Foto: Everett Collection/imago

Die Massenvernichtung der Juden im Nationalsozialismus ist Geschichte. Aber bedeutet dies zugleich, dass es sich um eine historische Debatte handelt, also um die Rückschau auf ein abgeschlossenes Kapitel? Dieser Versuch der Historisierung ist in den vergangenen Jahrzehnten mehrfach unternommen worden – und er bleibt falsch.

Denn einerseits sind die antisemitisch geprägten Wertvorstellungen, die den Kern des NS-Regimes ausmachten, ja keineswegs verschwunden, sondern treten in jüngster Zeit sogar verstärkt auf. Versatzstücke aus dem Katalog der NS-Rassenideologie werden gerade von Jüngeren verbreitet.

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Andererseits manifestiert sich die Auseinandersetzung um die Verbrechen der Nazis bis heute in die letzten strafprozessualen Verfahren gegen mutmaßliche NS-Täter, deren Taten nach einer Sühne verlangen, auch wenn die Täter inzwischen zu Greisen geworden sind. Und schließlich wäre es blanker Hohn, wollte man die letzten Überlebenden des Holocaust, aber auch ihre Nachfahren und die Ermordeten vergessen machen.

Die NS-Geschichte ist also immer noch reichlich lebendig, auch wenn ihre Aufarbeitung inzwischen selbst zur Geschichte zählt. Diese hat diverse Wendepunkte erlebt, etwa die alliierten Kriegsverbrecherprozesse in den späten 1940er Jahren, das bleierne Wegschauen in den 1950ern oder die späte Bereitschaft zur Strafverfolgung im ausgehenden Jahrhundert in der Bundesrepublik. Auch diese Aufarbeitung ist also keine abgeschlossene Angelegenheit.

Prozessbeginn 11. April 1961 in Jerusalem

Der wohl wichtigste Wendepunkt jährt sich in diesen Tagen zum 60. Mal. Am 11. April 1961 begann in Jerusalem der Prozess gegen Adolf Eichmann, den Organisator der Judendeportationen. Man kann den Prozess heute auf Youtube verfolgen und in allen Einzelheiten in Büchern nachlesen.

Aber hier soll es nicht um das Verfahren selbst gehen, das am 15. Dezember 1961 mit der Verurteilung Eichmanns zum Tod endete, sondern um die mittelbaren Folgen. Sie zeigen, wie Geschichtsaufarbeitung in der Lage sein kann, Gesellschaften zu verändern.

Um mit den Folgen für die Bundesrepublik zu beginnen: Der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer hatte bekanntlich versucht, Eichmann in Deutschland vor Gericht zu stellen. Das scheiterte, grob zusammengefasst, an den Widerständen in Politik und Justiz, die damals noch zu erheblichen Teilen mit NS-belastetem Personal besetzt waren.

Nicht verhindern konnte dieser Personenkreis aber, dass in unmittelbarer Folge des Verfahrens in Jerusalem und der weltweiten Schlagzeilen darüber die Justiz ihr Vorgehen änderte. Verfahren wurden nicht länger fast ausnahmslos niedergeschlagen, Massenmörder nicht per se freigesprochen, die Zentrale Stelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen nicht länger lahmgelegt.

Verfahren führt zu Auschwitz-Prozessen

Eichmann in Jerusalem führt auf direktem Wege zu den Auschwitz-Prozessen in Frankfurt, zu Verfahren gegen die Täter von Majdanek, Treblinka und Sobibor, und diese wiederum mündeten in eine öffentliche Debatte über den Umgang mit der jüngsten Geschichte der Deutschen. Man muss kritisieren, dass die bundesdeutschen Gerichte immer noch zu langmütig mit den NS-Verbrechern umgingen. Aber fortan konnte diese Vergangenheit nicht länger totgeschwiegen werden. Und das gilt bis heute.

Die Deutschen hatten sich in ihrer großen Mehrheit 1960 darauf verständigt, dass die eigentlichen Täter Hitler, Himmler, Göring, Goebbels erstens tot und zweitens Monster gewesen seien, die höchstens im Namen des deutschen Volkes, aber keineswegs mit dessen Einverständnis gehandelt hätten. Diese Legende war äußerst bequem, sprach sie doch 99,9 Prozent der Bevölkerung von aller Schuld frei.

Und nun saß in Jerusalem ein deutscher Bürokrat auf der Anklagebank, der sich als subalterner Befehlsempfänger präsentierte – auch wenn er das nicht war –, ein Repräsentant der Banalität des Bösen (Hannah Arendt), dem so gar nichts Monströses anzuhaften schien. In der Person Eichmann wurde die Legende zerstört und zerbrach.

Die Folgen des Verfahrens betrafen auch Israel. Dort hatte die Auseinandersetzung mit dem Holocaust lange nicht an erster Stelle gestanden. Das änderte sich mit dem Eichmann-Prozess. Der 1948 gegründete Staat verstand sich als zionistisches Projekt, in dem der „Muskeljude“ (Max Nordau) ein neues Land erschaffen sollte, das im Gegensatz zu den unterdrückten Juden in den Schtetl in Osteuropa stand.

Vorwurf des zu geringen Widerstands

Der Massenmord in Europa, in dem sich die Opfer angeblich widerstandslos „wie die Schafe zur Schlachtbank“ hatten führen lassen, passte wenig zu dieser Erzählung. Und so stießen die Überlebenden dort nicht immer auf Verständnis und Unterstützung, deren sie bedurften, ja, ihnen wurde bisweilen zum Vorwurf gemacht, sich nicht anständig gewehrt zu haben.

Der Prozess beendete diese ungerechte Debatte. In dem Verfahren wurde durch die Aussage der Zeugen deutlich, welch geringe Möglichkeiten die Verfolgten zum Widerstand gehabt hatten. Und die Zuhörer erfuhren, dass es diesen verzweifelten Widerstand dennoch gegeben hat.

Schließlich setzte der Jerusalemer Prozess Maßstäbe für den Umgang mit Vertretern verbrecherischer Systeme. Das Verfahren knüpfte unter anderem durch seine Anklage wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit an die Nürnberger Prozesse an und stärkte damit Möglichkeiten für eine Strafjustiz, die mit dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag erst Jahrzehnte später Realität wurden.

Und noch etwas änderte sich mit dem Verfahren in Jerusalem. Hier machten Juden einem deutsch-österreichischen Verbrecher den Prozess. Sie waren nicht länger Objekt der Geschichte, sondern beanspruchten, die Geschichte selbst zu bewerten – aber als Richter und nicht aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit.

Gegenteil heutiger Identitätsdebatte

Schon Eichmanns deutschem Rechtsanwalt Robert Servatius ging das damals entschieden zu weit. Ein Jude sei nicht dazu qualifiziert, Eichmann vor Gericht zu stellen. Solcherart völkische Vorstellungen – das genaue Gegenteil der heutigen Identitätsdebatte – lebten danach noch Jahrzehnte fort.

1985, so schreibt es der Holocaust-Forscher Saul Friedländer, habe ihm der deutsche Historiker Martin Broszat erklärt, die Subjektivität der Opfer und ihrer Nachkommen verhindere eine objektive Darstellung der Geschichte, Juden seien also zur Forschung über den Massenmord disqualifiziert – während dies für die Nachkommen der Täter offenbar nicht galt.

Diese Debatte hat sich erledigt – wenn auch nicht als Folge des Verfahrens in Jerusalem.

Adolf Eichmann ist am 1. Juni 1962 hingerichtet worden. Es ist das einzige Todesurteil im Staat Israel geblieben. Aber nicht Eichmanns Tod ist wichtig geblieben, sondern ein Prozess, der Maßstäbe gesetzt und Geschichte geschrieben hat.

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11 Kommentare

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  • Auch wenn es diesen Prozess gab, ist insgesamt recht wenig passiert. Die Täter wurden vor allem in Deutschland geschützt: nicht ausgeliefert, nicht verfolgt, durch neue Gesetze und Verordnungen bei der Verschleierung ihrer Beteiligung und Wiedererlangung von Amt uund Würden unterstützt.



    Verbrecher, Helfer und Helfershelfer der Vernichtung und des Nazi-Regimes konnten höchste Ämter bekleiden, werden hohe Verwaltungsbeamte, Bürgermeister oder Richter, der Mitverfasser und Kommentator der Nürnberger Rassegesetze und verantwortlicher Ministerialbeamter für die judenfeindliche Namensänderungsverordnung schafft es 1953 zum Chef des Bundeskanzleramts, KZ-Ärzte eröffnen Praxen.



    Gleichzeitig werden die Ansprüche der Opfer abgewiesen, wo immer es geht.



    Die eigentliche Tragödie ist, dass sich das braune Gedankengut so erfolgreich in die Bundesrepublik Deutschland herübergerettet hat, offensichtlich weil es gar nicht gewollt war, aufzuräumen. Das heißt: wir können überhaupt nicht für uns in Anspruch nehmen, in einer Republik zu leben, die die braune Vergangenheit hinter sich gelassen hat, sich gegen braunes Gedankengut gestellt hat.



    Und das werden wir leider nie mehr los werden.

  • Viel Wirbel um einen Schauprozess, bei dem BND und Mossad die Fäden zogen: www.heise.de/tp/fe...n-auf-6004108.html

  • Über mehrere der hier behaupteten Thesen kann man durchaus diskutieren und sollte es auch. Das hier liest sich doch deutlich zu sehr wie eine Erfolgsgeschichte, das kann aber nicht stimmen. Man lese zum Beispiel mal das Buch von Avner Less, man wird sich schnell von diesem Eindruck lösen. Der Eichmann- Prozess war auch für Israelis, Juden überhaupt und Überlebende sehr schmerzhaft. Schon bemerkenswert ist es auch erst mal, wenn hier mit keinem Wort die Entführung Eichmanns erwähnt wird, ohne die der Prozess ja gar nicht hätte stattfinden können. Man kann diese ja für richtig halten, oder für notwendig, nur darüber schweigen sollte man nicht, zumal mit diesem Argument gerade in Deutschland die Legitimität dieses Verfahrens bestritten wurde. Dann wird hier die Wirkung, die der Eichmann- Prozess in Deutschland hatte, massiv überschätzt. Das ist zwar schwer zu beweisen, aber in Gesprächen mit damals jungen Deutschen erlebt man oft, dass der Eichmann- Prozess kaum wahrgenommen wurde. Die Bemühungen um eine Strafverfolgung in Deutschland blieben auch nach dem Eichmann- Prozess noch mühsam und ein Fritz Bauer angefeindet, im Übrigen hatte es aber auch vorher schon zum Beispiel den Ulmer Einsatzgruppenprozess gegeben, dessen Wirkung in Deutschland recht stark gewesen sein muss, der wesentlich zur Gründung der Zentralen Stelle in Ludwigsburg beitrug. Eine steile These ist auch, dass Rechtsprechung und Erforschung der Verbrechen bei den Opfern in den richtigen Händen seien. In der normalen Rechtspflege nimmt man den Opfern ja gerade diese Last und internationale Gerichte, die über Verbrechen wie Völkermorde befinden, gelten doch auch mit Recht als Fortschritt. Natürlich sind Opfer weder für die Strafverfolgung noch für die Forschung "disqualifiziert", es ist aber gerade der zivilisatorische Anspruch, sie damit nicht allein zu lassen, sie eben auch nicht in den Verdacht von Rachejustiz geraten zu lassen oder in den einer "unobjektiven" Geschichtsschreibung.

    • @Benedikt Bräutigam:

      Da ist viel dran & noch vieles zu zu sagen. But. Lesens den Wachzettel *57 -



      Klaus Hillenbrand - le motörchen di taz -



      “ Der taz.eins-Chef und Dienstälteste im Nachrichtenbetrieb der taz agiert mit einer famosen Mischung aus Wissbegierde und Gelassenheit.“



      Ach was. ( © Vagel Bülow;)

  • Danke für diesen Artikel!!

  • Man kann auf You Tube einen großen Teil des Prozesses anschauen. Etwa hier, Session 68. Auf Deutsch spricht ab Min 16:40 Alfred Oppenheimer:



    www.youtube.com/watch?v=m3-tXyYhd5U

  • Im ARD TV-Kanal Alpha des Bayerischen Runfdunks sind die während des Prozesses gemachten Dokumentationen aus dem Gerichtssaal zu sehen. In über 3 Stunden Laufzeit wurde damals berichtet und auch geschildert, unter welchen Bedingungen die ARD-Journalisten damals gearbeitet haben - es gab in Israel kein Fernsehen und die Bilder aus dem Gerichtsaal wurden von einer US-Firma aufgenommen. Dazu sieht man fernsehhistorisch interessante Interviews mti Journalisten - sehenswert. www.br.de/mediathe...a63e0f24001ad8e6e3

  • Für welche Verfahren soll der Eichmann-Prozess denn Wegbereiter gewesen sein?

    Der Frankfurter Auschwitz-Prozess wurde mit allen Mitteln torpediert und die ohnehin milden Strafen für die Täter vorzeitig ausgesetzt; jeder Eierdieb wurde härter bestraft.

    Danach klafft eine zeitliche Lücke von vielen Jahrzehnten und für die greisen Täter, die heute noch wegen ihrer NS-Morde vor Gericht kommen, nachdem sie ein unbehelligtes Leben führen konnten, gibt es aus Gesundheitsgründen oder weil die Zeugen längst verstorben sind, keine nennenswerten Verurteilungen.

    Bei DDR-Tätern dagegen ist man eifriger gewesen und erst recht, wenn es um Täter fremder Länder geht wie aktuell in Koblenz.

  • Empfehle vor allem:

    Harry Mulisch De zaak 40/61 (Strafsache 40/61, 1962, dt. 1963, Reportage über den Eichmann-Prozess) ISBN 3-7466-8016-6



    “ Mulisch war 1961 Berichterstatter beim Eichmann-Prozess in Israel.



    Daraus entstand seine Reportage Strafsache 40/61, die 1963 mit dem Vijverberg-Prijs ausgezeichnet wurde. Seit 1962 war er mit Hannah Arendt befreundet, die ebenfalls Prozessbeobachterin war und das Werk Eichmann in Jerusalem verfasst hat.“



    de.wikipedia.org/wiki/Harry_Mulisch

    • @Lowandorder:

      Exzellente Empfehlung - ein immer noch extrem lesenswertes Buch (nog steeds een buitengewoon interessant boek)!

      Die deutsche Ausgabe gibt's meines Wissens nach aber nur noch antiquarisch. Leser*innen, die des Niederländischen kundig sind, können auch auf das bei "De Bezige Bij" erscheinende Paperback ausweichen (ISBN 9789023466444).

      • @O sancta simplicitas:

        Liggers. Zeitlos & gleich Das Attentat too