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Betroffene über Magersucht„Wir waren wie besessen“

Als Jugendliche erkrankte erst ihre jüngere Schwester an einer Magersucht, dann Kristina Ratsch selbst. Zusammenleben konnten die beiden nicht mehr.

Irgendwann kreisten ihre Gedanken nur noch ums Essen: Kristina Ratsch Foto: Sarah Zaheer
Sarah Zaheer
Interview von Sarah Zaheer

taz: Kristina, du bist eine meiner besten Freundinnen, trotzdem haben wir kaum über die Zeit gesprochen, in der du magersüchtig warst. Warum?

Kristina Ratsch: Als wir uns vor fünf Jahren im Studium kennenlernten, war vieles für mich bereits abgeschlossen. Aber andererseits fällt es mir immer noch schwer, darüber zu sprechen, weil es mich auf eine Art weiterhin betrifft. Wenn es mir jetzt psychisch nicht so gut geht, mache ich das oft mit mir selbst aus.

Wolltest du damals einen aktiven Neustart?

Den Neustart hatte ich schon etwas früher gemacht, als ich nach der Schule ins Ausland gegangen war. Ich wollte, dass sich etwas ändert, denn die letzten Jahre meiner Schulzeit waren schlimm. Ich war mit der Enge des Ortes und der Mentalität nicht mehr klargekommen. Ich habe gemerkt, dass ich bereit war, zu gehen und ein Kapitel abzuschließen.

Bevor du angefangen hast, dein Essverhalten zu ändern, hatte deine Schwester eine Magersucht entwickelt. Wie hatte das begonnen?

Greta hat mit 13 in einem Handballteam gespielt, wo lauter arrogante Mädels sie ausgeschlossen haben, weil sie anders war als sie – sie wollte sich beispielsweise nicht die Beine rasieren. Irgendwann dachte sie, dass niemand ihr den Ball zuspielt, weil sie dick ist. Es knüpfte an alte Ängste an, die Greta schon hatte: Dass das dumme Kommentare oder Ausgrenzung aufgrund ihres Gewichts seien. Zudem gab es viele Dinge, die schwierig für sie waren: Veränderungen in der Familie, des Körpers, Erwachsenwerden. Wir haben uns beide oft unwohl in unserem Ort gefühlt. Das hat sich alles an dem Körperbild manifestiert: Wäre ich dünner, wäre ich beliebter.

Hast du mit deiner Schwester darüber gesprochen?

Wir hatten ein sehr enges Verhältnis, aber sie wollte nicht mit mir sprechen. Ich habe sie provoziert, um ihr zu zeigen, wie dumm dieses Verhalten ist. Dass sie doch nicht so sein will wie diese – wie wir sie damals genannt haben – Zicken, die nur auf ihre Figur achten. Ich habe nicht gecheckt, wie schwerwiegend es da aber schon für sie war.

Im Interview: Kristina Ratsch

25, wuchs in einem kleinen Ort in Baden-Württemberg auf und zog 2016 für das Studium der Politikwissenschaft nach Hamburg. 2020 erschien das Buch „Vögel im Kopf – Geschichten aus dem Leben seelisch erkrankter Jugendlicher“ (Hirzel Verlag), in dem Ratsch neben anderen Betroffenen und Angehörigen ihre Erfahrung mit ihrer Essstörung niederschrieb.

Und deine Eltern?

Meine Eltern waren da schon getrennt. Mein Papa hat nicht mit uns gewohnt und hat dadurch weniger vom Alltag mitbekommen. Greta hat sich als Erstes meiner Mutter anvertraut, die total besorgt war. Sie haben viel allein geredet.

Hast du dich ausgeschlossen gefühlt?

Ja, und es hat mich verletzt, weil wir vorher so viel gemeinsam gemacht haben und sie sich bewusst immer mehr abwendete. Wir haben sehr viel gestritten. Ich habe ihr gesagt, sie solle doch bei Germany’s Next Topmodel mitmachen und ihr vorgeworfen, sie sei „mädchenhaft“. Das war damals eine Beleidigung für uns. Meine Mutter hat viel geweint und ist verzweifelt, als wir immer heftiger stritten.

Hat deine Schwester eine Therapie gemacht?

Nachdem sie es meiner Mutter erzählt hatte, hat sie eine Therapie angefangen. Wir haben auch eine Familientherapie gemacht, aber das hat nicht geklappt, weil wir nicht, ohne zu streiten, sprechen konnten. Meine Mutter hat sie auf eine Warteliste für einen Klinikplatz setzen lassen und ein Jahr später hat sie diesen bekommen. Sie war ein komplettes Jahr in der Klinik.

Wie war das für dich?

Ich wusste, dass es ernst ist, aber ich war davor immer so trotzig. Ich hatte das Gefühl: Sie zerstört die Familie und benimmt sich unmöglich. Als sie dann in die Klinik gegangen ist, bin ich aus allen Wolken gefallen. Es war das erste Mal in unserem Leben, dass wir voneinander getrennt waren. Wenn wir stritten, waren wir immerhin in ständiger Auseinandersetzung miteinander. Es war anstrengend, aber wir waren zusammen.

War es nicht auch erleichternd?

Das hat mich erleichtert, aber zur selben Zeit ging es mir selbst immer schlechter. Bevor meine Schwester in die Klinik ging, war ich mit Freundinnen im Urlaub. Dort habe ich schon angefangen, nicht mehr richtig zu essen. Und das wurde immer schlimmer.

Du hast ihr Essverhalten also abgelehnt, aber gleichzeitig selbst damit angefangen?

Ich glaube, wir haben mit denselben Sachen gekämpft und dadurch dasselbe Ventil gefunden. Ich habe es bei ihr abgelehnt, weil meine rationalen Gedanken auf sie gerichtet waren. Dass sie die anderen Gedanken umsetzt, die ich auch hatte, hat mich wütend gemacht. Aber schleichend hat sich mein Verhalten auch verändert.

Wie genau?

Es fängt damit an, dass man nur den halben Nachtisch isst oder die zweite Scheibe Brot weglässt. Das ist noch nicht so schlimm. Aber irgendwann geht das in die Situation über, dass alle Gedanken nur um das Essen kreisen. Man kämpft die ganze Zeit gegen sich selbst, denn die Krankheit kontrolliert deinen Alltag. Du stehst morgens auf und denkst: Wie komme ich durch den Tag mit möglichst wenig Essen?

Auch körperlich ging es mir schlechter, ich war schwach. Alles, was ich gegessen habe, habe ich vorher abgewogen, Kalorien verrechnet. Wenn ich dann mehr gegessen habe, habe ich mich schlecht gefühlt. Man entwickelt Mechanismen, um mit den bloßen Händen abzumessen, wie dünn die Arme und Beine geworden sind. Es gab keinen Moment, in dem ich nicht daran gedacht habe, wie viel ich gegessen habe, wie viel Sport ich machen muss und wie ich verheimlichen kann, dass ich nichts gegessen habe.

Das klingt schlimm.

Es ist wichtig zu verstehen, dass das nur passieren kann, wenn es dir psychisch nicht gut geht. Sonst hörst du eben mit einer Diät auf oder verlierst die Lust, joggen zu gehen. Wenn du eine Essstörung hast, denkst du, dass du all das machen musst, um ein guter Mensch zu sein und den Erwartungen gerecht zu werden. Es ist die Manifestation eines Selbstwertgefühls, eines inneren Frusts und eines Kontrollverlusts. Deswegen kann man nicht einfach damit aufhören.

War es den Menschen in deinem Umfeld bewusst, dass du unter einer Essstörung gelitten hast?

Ja, mit meinen engsten Freunden und meiner Familie habe ich darüber geredet, auch wenn ich oft versucht habe, es zu vermeiden. In unserem Dorf war es eher ein Gerücht, worüber getuschelt wurde. Bei Familienfeiern haben alle geschaut, wie viel ich gegessen habe, aber sie haben nicht darüber gesprochen, weil es ihnen zu unangenehm war. Ich habe eine Therapie begonnen, aber es wurde erst schlimmer, bevor es besser werden konnte.

Wie viel davon hat deine Schwester mitbekommen?

Wir konnten sie immer nur für eine Stunde besuchen und dann konnten wir nie wirklich reden. Sie hat gemerkt, dass ich immer dünner wurde. Während sie in der Klinik saß und zunehmen musste, konnte ich weiter hungern. Weil wir anfingen, uns miteinander zu vergleichen, durften wir uns irgendwann nicht mehr sehen.

Wie war es dann, als sie zurück nach Hause kam?

Es war schlimm, weil wir die ganze Zeit versucht haben, uns auszustechen. Es gab wieder viel Streit. Wir haben heimlich gegessen, damit die andere sich nicht überlegen fühlt. Wenn wir zusammen spazieren gegangen sind, wollten wir einander beweisen, wer schneller laufen und damit mehr Kalorien verbrennen kann. Irgendwann sind wir nebeneinander hergerannt. Wir waren wie besessen. Wir spornten einander an, noch weniger zu essen. Greta dachte, dass ich sie sabotieren will, indem ich Öl oder Zucker in ihr Essen mische. Wir waren füreinander ein Rückschlag, alle Fortschritte waren weg.

Also wurdet ihr wieder voneinander getrennt.

Unsere Eltern haben entschieden, dass wir nicht zusammen wohnen können. Sie haben eine kleine Wohnung gemietet, in der wir abwechselnd gewohnt haben. Es war schlimm, allein in dieser Wohnung mit all den Gedanken zu sitzen. Wieder das Gefühl zu haben, man kann keine normale Familie sein, weil man es nicht miteinander aushält.

Wir wurde es dann besser?

Ich hatte mein Abitur in Sichtweite und wollte es unbedingt gut hinkriegen. Die Therapie hat mir geholfen und ich habe wieder zugenommen. Es war absehbar, dass ich neu anfangen konnte. Als ich dann weg war, haben wir Abstand gewinnen können und uns unabhängig voneinander entwickelt. Das hat sich manchmal fremd angefühlt, aber dadurch waren wir nicht so toxisch aufeinander bezogen. Wir stehen uns nahe, aber auf eine andere Art.

Letztes Jahr habt ihr zusammen an dem Buch „Vögel im Kopf“ mitgewirkt, wo ihr jeweils ein Kapitel über eure Erfahrungen mit der Magersucht geschrieben habt. Konntet ihr nochmal gemeinsam darüber reflektieren?

Wir wollten als Kinder immer zusammen ein Buch schreiben, also war das schon ein besonderer Moment. Wir haben uns die Kapitel gegenseitig vorgelesen, was emotional war. Die ganzen Gefühle, die wir in der Zeit hatten, schwarz auf weiß zu lesen, war ein komisches Gefühl. Aber es war auch irgendwie ein Abschluss. Wir wussten: Wenn wir es für andere Menschen aufschreiben, müssen wir auch lernen, gemeinsam darüber zu sprechen.

Viele unserer gemeinsamen Traditionen drehen sich ums Essen: bei Ofengemüse an meinem Esstisch quatschen, sich zwischendurch auf eine Waffel an der Uni treffen … Ich hätte nie gedacht, dass du mal eine Essstörung gehabt hast.

Essen ist für mich heute nicht mehr damit verbunden, wie es mir geht. Aber das heißt nicht, dass die Probleme, die ich davor hatte, weg sind. Greta hat ihre Magersucht nie richtig überwinden können, gerade jetzt zu Zeiten der Pandemie ist es für sie ein Mechanismus, um Kontrolle zurückzugewinnen. Und das kann ich noch immer total nachempfinden.

Inwiefern?

Ich kontrolliere mich nicht mehr über Essen, aber über hohe Ansprüche an mich selbst, über strenge To-Do-Listen und hohe Disziplin. Und ich verliere mich in Gedanken, dass es nicht ausreicht, was ich tue, dass ich nicht genug bin.

Und wie hat sich dein Verhältnis zu deinem Körper verändert?

Es ist neutraler geworden. Es ist einfach nur mein Körper, der eben die Sachen ausführt, die ich machen will. Rückblickend ist es für mich erschreckend, wie viel ich auf meinen Körper projiziert habe. Ich glaube, dass gerade junge Frauen einen riesigen Druck verspüren, einer Norm zu entsprechen. Da geht es nicht nur um Äußeres: Frauen müssen schlank, talentiert und schlau sein. Dieser Druck, perfekt sein zu müssen, ist das Gefährliche.

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1 Kommentar

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  • 7G
    70704 (Profil gelöscht)

    "Ich kontrolliere mich nicht mehr über Essen, aber über hohe Ansprüche an mich selbst, über strenge To-Do-Listen und hohe Disziplin. Und ich verliere mich in Gedanken, dass es nicht ausreicht, was ich tue, dass ich nicht genug bin."

    Auch ich habe Essen zur Emotionsregulation verwendet, aber umgekehrt. Ich habe zu viel gegessen und nicht zu wenig. So wurde ich nach und nach adipös. 30 kg mehr in 30 Jahren. Langsam wird es wieder etwas weniger.

    Schon als Jugendliche fand ich mich zu dick, obwohl ich das, wenn ich heute die alten Fotos betrachte, nicht war. Ich hatte nur eine ganz andere Konstitution als meine jüngere schlanke und sportliche Schwester, die mehr Erfolg bei Männern hatte. Bis heute muss ich manchmal bewusst darauf achten, ihr Leben nicht mit meinem zu vergleichen. Wir sind einfach zwei sehr verschiedene Menschen.

    Mein Selbstbild als junge Frau entsprach definitiv nicht der Realität. Über lange Jahre bin ich in dieses Selbstbild dann buchstäblich "hineingewachsen". Dass ich weniger Erfolg als meine Schwester bei Männern hatte, habe ich immer nur auf meine Figur zurückgeführt, nicht auf meine Kommunikationsmuster. Dass es gar nicht die Figur war und ist, habe ich erst sehr spät verstanden.

    Heute bin ich 57 und immer noch dabei zu lernen, mit mir selbst gnädig zu sein, zu erkennen, dass ich gut und schön genug bin, glücklich sein darf, auch wenn ich immer wieder (vermeintliche) Fehler mache, dass niemand perfekt ist usw. Das war und ist ein langer Weg.

    Kristina Ratsch und ihrer Schwester Greta wünsche ich alles Gute! Und danke für die ehrliche Schilderung, die ich als sehr hilfreich empfungen habe. Mein Dank geht auch an die Autorin und Interviewerin Sarah Zaheer.