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Kulturkritiker Mark Fisher„Niemand ist gelangweilt, alles ist langweilig“

Vier Jahre nach dem Suizid dokumentiert ein Band die letzte Vorlesung Mark Fishers. Einblicke ins Universum eines kreativen Denkers.

Mark Fisher wurde mit seinem Blog k-punk berühmt. 2017 nahm er sich das Leben Foto: Paul Samuel/The Wire, 2014

Der 5. Dezember 2016. Wie jeden Montagmorgen in diesem Semester unterrichtet Autor und Kulturkritiker Mark Fisher am Gold­smiths College in London seine Vorlesung „Postcapitalist Desire“. Es ist die letzte Sitzung vor der Weihnachtspause. Unter der Überschrift „Libidinal Marxism“ widmet man sich der notorisch sperrigen Marx-Lektüre Jean-François Lyotards. Im Januar ist ein Essay fällig. Wer dazu Fragen hat, soll einfach eine E-Mail schicken, schließt Fisher die Sitzung, bevor er den Kurs in die Ferien schickt.

Doch im neuen Jahr kommt alles anders. Kurz vor der ersten Sitzung verbreitet sich unter den Studierenden ein Gerücht. Als die Gruppe am 16. Januar 2017 am gewohnten Ort zur Vorlesung erscheint, wird aus der Befürchtung Gewissheit: Ihr Dozent Mark Fisher hat sich das Leben genommen, drei Tage zuvor. Den Schock, die Trauer, die Fassungslosigkeit, all das kann man sich nur schwer vorstellen.

Ein paar Minuten später spielt jemand ­Fishers Playlist „No More Miserable Monday Mornings“, einer seiner letzten Beiträge auf dem Blog k-punk. Wütende und lebens­bejahende Songs ­gegen die Arbeit, von HipHop über Post-Punk bis Disco und Pop. Sleaford Mods, Spandau Ballet, The Supremes. Wochen später wird die Gruppe beschließen, den Kurs in Erinnerung an Fisher als offene Lesegruppe fortzusetzen.

Die Bücher

Die Bücher von Mark Fisher „k-punk“, „Das Seltsame und das Gespenstische“ und „Gespenster meines Lebens“ sind auf Deutsch in der Berliner Edition Tiamat erschienen.

Einer der Studierenden, Matt Colquhoun, hat die letzte Vorlesung auf Basis von Aufnahmen wortgetreu protokolliert. Vier Jahre nach Fishers Tod erscheint sie nun bei Repeater Books im von Colquhoun edierten Band „Postcapitalist Desire: The Final Lectures“. Man kann darin nicht nur, zusammen mit dem Fragment gebliebenen letzten Buchprojekt Fishers namens „Acid Communism“, eine gute Idee davon gewinnen, in welche Richtung sich das Denken eines der wichtigsten Kulturtheoretiker der Linken zuletzt entwickelte.

Kapitalistischer Realismus

Es gibt auch einen Mark Fisher zu entdecken, der sich im Ton und Inhalt von dem unterscheidet, was Le­se­r*in­nen früherer Texte wie „Capitalist Realism“ gewohnt sind.

Fisher, 1968 geboren, wuchs als Kind einer Ar­bei­te­r*in­nen­fa­mi­lie in den britischen Midlands auf, einer durch den Kohlebergbau geprägten Region. Die Welt des fordistischen Englands, des sozialdemokratisch geprägten Klassenkompromisses der Nachkriegsjahre, verschwand während seiner Kindheit und Jugend mit dem allmählichen Siegeszug des neoliberalen Kapitalismus.

Fisher interessierten vor allem die kulturellen, politischen, sozialen und psychischen Folgen dieser Wende. Prekarisierung, Entsicherung und Vereinzelung führten zur endemischen Ausbreitung von Stress, Angst und psychischen Erkrankungen – das, so Fisher, sei der Kern unserer Gegenwart. Er selbst litt immer wieder an Depressionen, die er sich nie scheute als politisches und gesellschaftliches Problem zu analysieren, statt sie als schmutziges persönliches Geheimnis zu verstecken.

Fishers bekanntester Text „Capitalist Realism“ von 2009 war sein pessimistischster. Der Kapitalismus habe es im 21. Jahrhundert geschafft, sich als völlig alternativlos zu präsentieren, es sei einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus, so die These. Fisher zeichnete den Aufstieg des kapitalistischen Realismus etwa anhand eines Vergleichs der Gangsterfilme „Der Pate“ (1972) und „Heat“ (1995) nach oder analysierte die Reihe „Hunger Games“ oder Christopher Nolans „Inception“ als Metaphern der Gegenwart.

Depressive Hedonie

Und er beschrieb seinen Alltag: Seinen jungen Studierenden etwa attestierte er in einer typischen Fi­sher-Formulierung eine „depressive Hedonie“, insofern sie versuchten, sich durch ständige, digital vermittelte Hyperaktivität und Vergnügungssucht von einem Zustand innerer Leere abzulenken. Den Effekt von Smartphones und Social Media beschrieb Fisher an anderer Stelle einmal so: „Niemand ist gelangweilt, alles ist langweilig.“

Fishers tief pessimistische Analyse der Gegenwart traf einen Nerv, aber wirkte hermetisch und hoffnungslos. Es gibt keinen Ausweg, keine Fluchtlinie. Vielleicht merkte er das auch selbst. Mit dem Konzept der Hauntology, das er von Derrida borgte, versuchte er in der Folge, in der Popkultur der ­Gegenwart und jüngeren Vergangenheit eine Alternative zum kapitalistischen Realismus zu entdecken, indem er dem ­verborgenen Sinn für eine bessere Zukunft in der Musik von Bands wie Joy Division, Burial und anderen nachspürte („Gespenster meines Lebens. De­pression, Hauntology und der Verlust der Zukunft“, 2015).

Diese Fährte führt mitten in die letzte Vorlesung „Postcapitalist Desire“. Sie fragt: Gibt es ein postkapitalistisches Begehren, also ein Begehren nach etwas, das jenseits des Kapitalismus liegt? Fisher führt seine Spurensuche zu den Hippies, die er in seinem Blog noch als bekiffte Reaktionäre beschimpft hatte, in die psychedelischen Dimensionen der Gegenkultur, zum Feminismus und zu den radikalen Arbeitskämpfen der 1970er Jahre.

Kein Paradies

Eine klare Absage erteilt Fisher dem Traum von der Rückkehr zu einer unverdorbenen Welt vor dem Kapitalismus. Theoretischer Fixpunkt bleibt die Idee des linken Akzelerationismus, jener philosophischen Strömung, die Fisher in den 1990er Jahren an der Universität Warwick mitbegründet hatte: den Kapitalismus beschleunigen, um ihn zu überwinden, durch ihn durch statt hinter ihn zurück.

Die Analyse des real existierenden kapitalistischen Begehrens führt Fisher zu Beginn der ersten Sitzung aber zunächst in den Kalten Krieg zurück, zum Super-Bowl-Werbespot für den Apple Macintosh von 1984, bei dem Ridley Scott Regie führte. Eine junge, in bunte Sportswear gekleidete Frau dringt, verfolgt von Polizisten, als einsame Revolutionärin in eine dystopisch anmutende Orwell-Welt à la 1984 ein, um mit einem Hammerwurf auf einen großen Screen das totalitäre System zu zerschlagen.

Die Einführung des Macintosh inszeniert als weibliche und individualistische Befreiung aus einer konformistischen Massengesellschaft. Wie Fisher betont, ruft der Spot Bilder eines grauen, engen, lustfeindlichen Alltags im sowjetischen Kommunismus auf, um die Konkurrenz IBM als Inbegriff fordistischen Büromuffs und spießigen Beamtentums bloßzustellen, während Apple fortan für entfesselte Kreativität, Individualismus, Spaß und Selbstverwirklichung, also für den Postfordismus selbst stehen sollte.

Der Neoliberalismus schlägt sich symbolisch auf die Seite der Gegenkultur, der Kapitalismus verleibt sich die Kritik von 1968 ein – Boltanskis und Chiapellos „Der Neue Geist des Kapitalismus“ kondensiert auf 60 Sekunden.

Freie Rede

All das und mehr präsentiert der Text im Duktus des freien Vortrags, der ungeschliffen und provisorisch wirkt, aber gerade darin seinen Sog entwickelt. Fisher schweift ab, spitzt zu, korrigiert sich, hat Probleme mit der Technik, macht darüber Witze, gibt zu, dass er keine Ahnung hat, diskutiert mit seinen Studierenden. Kurz: Man fühlt sich wie mitten im Seminar.

Typisch für Fisher ist der schier unglaubliche Reichtum der kulturellen und intellektuellen Bezüge. Ein gegenkulturelles Archiv eröffnet sich, in dem unbekanntere Namen wie Ellen Willis neben Relektüren von Klassikern wie Shulamith Firestone oder Stuart Hall und verdrängten Denkern wie Herbert Marcuse stehen. Theorie, Geschichte, Alltags- und Popkultur: Man kommt aus dem Notieren von Büchern, Begriffen, Filmtiteln, Songs und Werbespots kaum heraus. Alles ist spannend, alles scheint wichtig.

Manche Diskussion mäandert auch, um dann mit dem Ende der Stunde abzubrechen. Vieles ist nicht zu Ende gedacht oder bleibt vage und unbefriedigend. Oft scheint auch der banale Alltag eines Uni-Seminars durch: Niemand meldet sich, um das Referat über Lukács zu halten, niemand versteht Lyotard so richtig, Dozent und Studierende reden aneinander vorbei.

Die Vorlesung korrigiert teilweise ein Bild, das Fishers Texte bisweilen vermitteln konnten. In seinen apodiktischen Urteilen, seiner polemischen, manchmal ätzenden Rhetorik und Negativität konnte Fisher in seinen schlechten Momenten wie einer jener mittelalten Pop-Bescheidwisser wirken, für die Kritik vor allem ein Mittel der Distinktion ist. Fishers Ablehnung von Gegenwarts-Pop und seine Glorifizierung vergangener Pop-Epochen wie Glam oder Post-Punk konnte selbst ungewollt nostalgisch wirken: nach alterndem Pop-Kritiker, für den früher alles besser war.

Aufklärung und Pop

Fisher, das zeigen die letzten Vorlesungen deutlich, war aber zuallererst ein politischer Denker, der Pop aus der aufklärerischen Perspektive des Wunsches nach einer besseren, menschlicheren Welt analysierte. Ein linker Denker, für den die Kategorie der Klasse zentral, aber keine rein ökonomische war, sondern untrennbar mit Fragen des Begehrens, des Geschlechts, der Sexualität, der Kultur und des Alltagslebens der Subjekte verknüpft. Dem heute so heftig diskutierten Gegensatz zwischen Klassenpolitik und Kämpfen um Anerkennung verweigerte er sich strikt, indem er beides zusammendachte.

Die Vorlesungen zeigen schließlich auch: Aus Fisher spricht neben einer tiefen Verzweiflung über den Zustand der Welt eine große Leidenschaft, Enthusiasmus und echte Zuneigung für die Alltagskultur, die Praktiken und Kämpfe arbeitender Menschen.

Gerade weil Fishers Werk so gegenwärtig und die von ihm aufgeworfenen Fragen von so großer Dringlichkeit sind, empfindet man den abrupten Abbruch der Vorlesung – und seines Denkens – als eine furchtbare und tragische Lücke. Gerade jetzt zur Coronapandemie, die so viele Tendenzen des neoliberalen Kapitalismus zu radikalisieren scheint, wünscht man sich einen Denker wie ihn zurück. Die Vorlesung zum postkapitalistischen Begehren, die unvollendet bleibt, können und sollten wir insofern auch als eine Aufforderung verstehen, dieses Denken fortzusetzen.

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1 Kommentar

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  • Ach, wenn wir doch wenigstens alle zugeben könnten, dass wir ratlos sind. Brüder und Schwestern in Ratlosigkeit vereint, das wäre doch schon mal was. Vielleicht käme man dann sogar zum gemeinsamen sein lassen durch. Aber nein, nicht nur hat jeder Antworten sondern auch schrecklich viel zu tun. Alles kämpft um Anerkennung, um die Selbst- und Fremdverortung auf der richtigen Seite des Problems. Das Problem selber lässt man lieber in Ruhe, sonst könnte man entdecken, dass, derweil man tut um zu kaschieren, man nichts tut, das aber natürlich doch mindestens ein Tun ist. Frage: was macht eigentlich ein wirklich klar denkender Mensch, wenn er merkt, dass er selber das Problem ist? Dass sein Scheitern beim Wohlmeinen anderen als Argument dient? Dass sein Bemühen die Destruktion sogar noch stützt, weil niemand zugeben will, dass Bemühen nichts nützt? Andere Frage: wie würden wir uns eigentlich verhalten, wenn nur wir verschont bleiben würden von den kommenden Katastrophen? Die Antwort gibt es längst. Wir erkaufen uns ein etwas längeres Überleben, natürlich auf Kosten anderer. Später Sterben, das ist ohnehin der Kern unserer ganzen Kultur, ergänzt durch die maximale Erlebnisanhäufung während des Lebens. Dass Fisher darin die reine, wenn auch bunte und geschäftige, Langeweile erkennt, ist eigentlich kein Kunststück, aber trotzdem vielleicht die einzige Hoffnung. Also: hinsetzen, nichtstun, freundlich sein, nicht drüber reden. Psst jetzt! Schschschschsch...