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Corona, die Literatur und der AlltagAlles ist entgrenzt – fast alles

Pausenbrot für den halben Schultag schmieren und gleichzeitig Texte redigieren. Alltag in der Pandemie heißt vor allem: Radikal ohne Grenzen.

Konferieren vom Wohnzimmer aus: In der Pandemie ist der Alltag fluide geworden Foto: Florian Gaertner/photothek/imago-images

Z urzeit muss ich öfter an meinen Professor damals in Leipzig denken. Als einer der führenden Erforscher und Verfechter der Postmoderne drapierte er sich gern in seinem beigen Leinenanzug ans Pult, blickte uns herausfordernd an und schleuderte uns ein Zitat von Derrida entgegen: „Il n’ya pas de hors-texte“, es gibt kein Außerhalb des Textes. Darüber sollten wir dann bis zum nächsten Seminar nachdenken.

Fürs theo­retisch-philosophische Denken nicht überbegabt, machten mich solche Aufgaben manchmal neugierig, meist aber hilflos oder sogar wütend: pas de hors-texte – was sollte das denn heißen? Dass alles bloß Text war, die ganze Welt? Aber war dann nicht alles unterschiedslos, bedeutungslos, ein einziger Brei?

Das, klärte uns der Professor später auf, sei eine verbreitete Fehlrezeption von Derrida. Dieser habe gemeint, dass alles um uns herum zum Text beiträgt – ein Gedanke, der eine radikale Entgrenzung der Konzepte der Moderne bedeutet: Wissen, Macht, Normen – der Kontext wird instabil, die Bedeutung verändert sich fortwährend, der Text endet nie. Radikal entgrenzt: Was beschriebe besser den Alltag in der Pandemie?

Arbeit ist Wohnen ist Schule ist Alltag ist Nachrichtenkonsum; während der Mann nebenan Codes schreibt – eine spezielle Textform, die nur Eingeweihten zugänglich ist–, schreibe ich diesen Text stehend im Wohnzimmer und versuche auszublenden, dass aus dem Zimmer des Sohnes zur Unzeit gedämpfte „Minecraft“- Spielgeräusche dringen. Was will man auch erwarten, wenn die Rumpfschule erst um elf anfängt.

Der Tagesablauf ist ebenso fluide geworden wie die Grenzen zwischen privat und beruflich: Ich frühstücke in der Zoom-Konferenz, bespreche Texte und Projekte beim Spazierengehen und schmiere, während ich redigiere, das Pausenbrot für den halben Schultag. Alles ist digital: Die Verwandtschaft wird per Skype ins Wohnzimmer zugeschaltet, die Pilateslehrerin gibt von irgendwo aus NRW die Anweisung, den Rücken gleichmäßig abzurollen, und einmal die Woche klicke ich mich abends in die Küche eines Ingenieurs aus Parma, der in gebrochenem Deutsch vom Leben in der zona arancione berichtet, während ich in ebenso gebrochenem Italienisch versuche, ihm das Klischee vom effizienten Deutschland auszutreiben. Denn das beschreibt schon lange nicht mehr die Wirklichkeit.

Chips in der Online-Englischstunde

Wir sind vernünftig? Ich sage nur Coronaleugnerdemos. Wir sind nicht korrupt? Ich sage nur CSU und Nüßlein oder CDU und Amthor. Na gut, sagt er, aber wenigstens habt ihr eine kompetente Regierung. Ich sage Mautdesaster – und erzähle ihm, dass sich in den Impfzentren unseres Landes die Vakzine nur so stapeln, weil unsere staatliche Infrastruktur überfordert ist. Denn nicht „alles“ ist digital – während die Deutschen im Alltag einen nie gekannten Digitalisierungsschub erfahren, herrscht in der Verwaltung noch Analogzeitalter pur.

Mein italienischer Gesprächspartner lacht über die Geschichte, wie meine Eltern, beide über 80, letzte Woche endlich den Anruf bekamen und zum Impfzentrum in die Kreisstadt fuhren. Dort aber fand man zunächst ihre Namen nicht, er war in dem riesigen Zettelwirrwarr am Empfang irgendwo falsch einsortiert. Handgeschriebene Impfzettel! „So viel zu ‚Vorsprung durch Technik‘ “ sage ich grimmig, und da sieht er sich genötigt, mich zu trösten: Auch bei ihnen laufe es nicht so gut.

Obwohl die italienische Regierung diese Woche beherzt den Export von AstraZeneca-Impfstoff (also dem Zeug, das zuerst für Ältere nicht infrage kommen sollte und jetzt doch und komischerweise überallhin in zu geringen Mengen geliefert wird, außer nach Großbritannien) nach Australien gestoppt hat, glaubt er nicht daran, dass „Super-Mario“ die Pandemie stoppen kann. Besonders nicht bei den frühlingshaften Temperaturen. „Alle draußen, alle beieinander – Italien!“, ruft er und illustriert mit Luftküsschen den vermeintlich mediterranen Leichtsinn seiner Landsleute.

Als ob es hier nicht genauso wäre: Bei meinen endlosen Wanderungen durch den Berliner Stadtraum sehe ich Trauben von jungen Menschen, die mit aufblasbaren Sitzsofas, Shishas und riesigen Boomboxen den Park zum Club machen und den digital allgegenwärtigen Virologen ganz analog den Mittelfinger zeigen. Würde ich vielleicht auch machen, wenn ich Mitte zwanzig wäre.

In meinem Lebensalter fällt es mir gar nicht mal so schwer, mich in dem neuen, digital entgrenzen Alltag einzurichten. Den Kindern übrigens noch weniger: Neulich erwischte ich die Tochter, wie sie, genüsslich in eine Schale Chips greifend, die Online-Englischstunde vorbeirauschen ließ, während sie mit der anderen Hand irgendwelche Zombies abknallte. Die Nachricht, dass ab kommende Woche wieder Schule ist, und zwar ab 8.15 Uhr, kommentierte sie entgeistert mit: „Warum das denn?!“

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Nina Apin
Redakteurin Meinung
Jahrgang 1974, geboren in Wasserburg am Inn, schreibt seit 2005 für die taz über Kultur- und Gesellschaftsthemen. Von 2016 bis 2021 leitete sie das Meinungsressort der taz. 2020 erschien ihr Buch "Der ganz normale Missbrauch. Wie sich sexuelle Gewalt gegen Kinder bekämpfen lässt" im CH.Links Verlag.
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