piwik no script img

Corona in GroßbritannienVierte Stufe zum Vierten Advent

Die britische Regierung verhängt wegen der Virusmutation schärfere Coronamaßnahmen über weite Teile Englands. Viele Menschen reisen trotz Verbots.

St. Pancras in London, der Bahnhof, von dem der Eurostar – derzeit nicht – aufs Festland fährt Foto: Stefan Rousseau/dpa

London taz | Bitter und niedergeschlagen schaute Boris Johnson in einer direkt ausgestrahlten Pressekonferenz am Samstagabend drein. Eingerahmt von seinem wissenschaftlichen und seinem medizinischen Berater verhängte der britische Premierminister über London und umliegende Regionen im Osten und Südosten Englands ab Sonntag eine neue, beispiellos harte Stufe von coronavirusbedingten Einschränkungen.

„Es ist meine Pflicht, schwere Entscheidungen zu treffen, um die Menschen dieses Landes zu schützen. Als Premierminister steht mir keine andere Option zur Verfügung“, sagte er.

Auch in Wales rief die dortige Labour-geführte Autonomieregierung die neue „Stufe vier“ aus, während Schottlands Regierung die Schließung der Grenze nach England verkündete; ab dem 26. Dezember gilt dann auch dort „Stufe vier“. So wird es im Vereinigten Königreich nun kein Weihnachtsfest wie vorgesehen geben.

Bisher galt, wie die Regierung am 23. November mitgeteilt hatte, dass sich über die Weihnachtszeit fünf Tage lang ausnahmsweise Personen aus drei Haushalten treffen dürften. Der britische Verkehrsminister hatte sogar 3 Millionen Pfund für 80.000 Busreisen extra hingeblättert, damit Menschen zu Weihnachten bequem und sozial distanziert zu ihren Verwandten reisen könnten.

Der Eurostar steht still

Wer in Zonen der „Stufe vier“ lebt, darf nun überhaupt keine anderen Menschen besuchen, designierte und permanente Kontaktpersonen ausgenommen, auch nicht zu Weihnachten. In allen anderen Gebieten darf man nur Angehörige eines Haushalts für einen Tag lang treffen. In „Stufe vier“ ist es Menschen auch verboten zu reisen, es sei denn, es ist unbedingt notwendig, etwa zu Arbeitszwecken. Zu Silvester soll starke Polizeipräsenz Massenaufläufe verhindern.

Als Reaktion darauf kappten andere europäische Länder die Einreise aus Großbritannien, darunter Deutschland. Der Eurostar – die Zugverbindung unter dem Ärmelkanal – fährt ab Montag nicht mehr. „Wir kontaktieren alle Menschen, die Reisen gebucht haben, sie erhalten alle eine volle Kostenrückerstattung“, erklärte eine Sprecherin von Eurostar der taz.

Die Maßnahmen seien notwendig geworden, erklärte Johnson, weil am Freitag der Regierung neue Einsichten über eine Mutation des Coronavirus, wissenschaftlich als Strang VUI2020/12/01 bezeichnet, vorgelegt wurden.

Die Mutation, die sich in der Grafschaft Kent südöstlich von London und in London selber ausgebreitet hat, soll bis zu 70 Prozent mehr ansteckend sein als das herkömmliche Sars-CoV-2-Virus. 62 Prozent aller Neuinfizierungen in London gingen auf diese neue Mutation zurück, so die Mediziner, die die Regierung beraten.

Flucht aus London

Zu der Erkenntnis war es gekommen, als sich das Virus in Kent und in Teilen Londons stark verbreitete, obwohl dort bereits die Höchststufe der bisherigen Coronarestriktionen galt.

Obwohl die Mutation weiter untersucht werden müsse – sie gleicht einer in Dänemark, die dort die Massenkeulung sämtlicher Nerzbestände zur Folge gehabt hatte –, wird angenommen, dass sie keine schwereren Erkrankungen nach sich zieht als die bekannte Variante. Auch die bestehenden Impfstoffe sollen weiterhin wirksam sein.

An den Bahnhöfen und Autobahnen Londons kam es am Samstagabend kurzfristig zu verstärktem Reiseverkehr, weil manche versuchten, noch schnell vor Mitternacht in den Norden und Westen des Landes zu reisen. Von einigen Zügen wurde gemeldet, dass das Einhalten der Abstandsregeln nicht mehr möglich gewesen sei.

Auch am Sonntag standen am Bahnhof Kings Cross, von wo die Fernzüge nach Nordengland und Schottland starten, noch zahlreiche Reisende, teilweise mit Weihnachtsgeschenken bepackt. Das Bahnhofspersonal stand an den Eingängen, hinderte jedoch niemanden am Betreten des Bahnhofs.

Kontrollen an Schottlands Grenze

Eine Familie erzählte der taz, dass sie – nun unerlaubterweise – ins nordenglische Leeds zurückfahren wollte und erst gestern für Weihnachtseinkäufe nach London gekommen sei. Die Reise mache ihnen zwar Sorgen, aber sie hätten keine andere Wahl.

Ein Bahnhofsangestellter am benachbarten Bahnhof St. Pancras, wo unter anderem der Eurostar abfährt, sagte der taz, es werde über Ansagen und auf Bildschirmen auf die neuen Richtlinien hingewiesen, aber weder Bahnangestellte noch die Polizei würden eingreifen.

An der Grenze Englands zu Schottland sei die Polizei angewiesen, zu kontrollieren, sagte die schottische Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon. Auf direkte Anfrage der taz hieß es jedoch von der schottischen Polizei, dass man ein Eingreifen nur als allerletzte Maßnahme verstehe, dass die Polizei auf Vernunft hoffe und Menschen eher gut zureden werde.

Schottlands Vizepolizeichef Alan Speirs erklärte der taz: „Wir haben bisher deutlich gemacht, dass wir nicht routinemäßig Fahrzeuge stoppen oder Straßensperren einrichten werden.“

Johnson-Regierung unter Druck

Politisch steht Johnsons Regierung mit den Maßnahmen unter Druck. Bereits als die Regierung die fünf Tage Lockerungen zu Weihnachten ankündigten, wurde dies kontrovers diskutiert – in der Bevölkerung und auch im Parlament. Als sich die Virusverbreitung nach dem letzten Lockdown wieder stark erhöht hatte, forderte der britische Ärzteverband die Regierung auf, die weihnachtlichen Freiheiten wieder einzuschränken.

Letzten Mittwoch schloss sich Labour-Oppositionsführer Keir Starmer im Unterhaus dieser Forderung an, worauf Boris Johnson ihm empört vorwarf, den Menschen Weihnachten verbieten zu wollen.

Dass er das nun am Samstag selbst tat, missfällt wiederum Abgeordneten der eigenen Partei, der Johnson mehrmals versprochen hatte, zukünftige Änderung von Coronaregeln im Unterhaus vorzustellen.

Inzwischen forderte der Vizevorsitzende der Gruppe der konservativen Hinterbänkler, Charles Walker, sogar den Rücktritt von Gesundheitsminister Matt Hancock. „Ich tue meine Pflicht im Kampf gegen eine globale Pandemie“, wehrte sich dieser am Sonntag im BBC-Fernsehen.

Hoher Anstieg der Neuinfektionen

Sowohl Boris Johnson als auch sein Gesundheitsminister wiederholten, dass sie stets dem wissenschaftlichen Rat folgten und dass alle Entscheidungen nach neuesten Erkenntnissen getroffen würden. Währenddessen läuft das britische Impfprogramm weiter, das am 8. Dezember begonnen hatte.

Bis Samstagmorgen wurden in Großbritannien 350.000 Personen geimpft. In der letzten Woche starben 3.050 Menschen, während 173.263 Personen positiv getestet wurden, ein Anstieg um 38,6 Prozent zur Vorwoche.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

8 Kommentare

 / 
  • Ist das jetzt Satire?

    Wer in Zonen der „Stufe vier“ lebt, darf nun überhaupt keine anderen Menschen besuchen.. In „Stufe vier“ ist es Menschen auch verboten zu reisen, es sei denn, es ist unbedingt notwendig, etwa zu *Arbeitszwecken*.

    Es ist also quasi alles verboten, nur die dämliche Arbeit nicht? *Lol*

    • @Bunte Kuh:

      das hab ich mich grad auch gefragt...wenn es noch keine realsatire sein sollte, dann scheinbar mindestens ein lebendiges zitat von george orwell und aldous huxley...

    • @Bunte Kuh:

      Hatten wir nicht auch ein ähnliches Konzept bei unserem Lockdown light? Feierabendaktivitäten wie Restaurantbesuche, Sportangebote, Kino oder Theater waren gestrichen, die Öffis waren aber weiterhin morgens und zum Feierabend gestopft voll. Es gibt nun mal viele Berufe, bei denen Homeoffice keinen Sinn macht oder schlichtweg nicht geht, besonders im Niedriglohnsektor,



      in dem leider sehr viele Menschen beschäftigt sind. Bei dem Aufrechterhalten des Schul- und Kitabetriebes ging es wohl auch mehr darum, dass die Betreung gesichert ist, damit die Eltern arbeiten können und weniger um Bildung, Förderung oder Schutz der Kinder vor häuslicher Gewalt. In Deutschland hat es in der Erntezeit sogar der Begriff Arbeitsquarantäne in unser Vokabular geschafft! Wie zynisch und Menschenverachtend ist das denn? Es geht hier nicht wirklich um Menschen. Im Kapitalismus geht es nun mal immer als erstes um wirtschaftliche Interessen und nicht um verheiztes Pflegepersonal in den Krankenhäusern oder um die Alten in Pflegeheimen.. Aber *lol*- lustig finde ich das eigentlich nicht...

    • RS
      Ria Sauter
      @Bunte Kuh:

      Die unteren "Deppen" sind ja leicht austauschbar.

    • @Bunte Kuh:

      "Lohn-Sklaven" ohne sonstige Ansprüche gibt's halt überall! *lol*

    • @Bunte Kuh:

      Das ist keine Satire, das ist Kapitalismus, und Kapitalismus in einer Pandemie ist allenfalls zum Totlachen.

      China zahlt positiv Getesteten angeblich umgerechnet 1.000 Euro für die Quarantänezeit, Vietnam sorgt für eine Rundum-Versorgung mit 5 Mahlzeiten am Tag, Hygieneartikeln, digitalen Unterhaltungsangeboten etc frei Haus - und Quarantänebrecher werden in beiden Ländern hart bestraft.

      Die neoliberalistische Welt indes versucht die Quadratur des Kreises namens "mit dem Virus leben (und arbeiten)", und zimmert sich dadurch fröhlich pfeifend ihren eigenen Sarg.

      Einen solchen zivilisatorischen self-own hat die Welt seit fast 1300 Jahren nicht mehr gesehen.

    • @Bunte Kuh:

      Und ersthaft: Soll Stufe4 nicht heißen: "Stay at f*cking home!". Wenn dann trotzdem viele mit der U-Bahn zur Arbeit rammeln - ist das nicht total kontraproduktiv?

    • @Bunte Kuh:

      Die Wirtschaft muss immer gestützt und geschützt werden. Lieber paar Menschen leben opfern, als die arme arme Wirtschaft...

      Deswegen ist der Impfstoff ja auch nicht für den Selbstkostenpreis verfügbar, TROTZ das alle Firmen die aktuell Impfstoff auf dem Markt haben, Pfizer/Biontech und Modern, massiv mit Staatsgelder aus mehreren Staaten unterstützt wurden. Bei der Entwicklung sollen die Staaten helfen, beim verdienen lieber nicht.

      Ist das noch Turbokapitalismus?