Zum Ende des Jahres: Wie geht gemeinsames Nachdenken?
Es gibt Orte, vielleicht auch Zeiten, in denen Träume es besonders schwer haben, weil die Realität den Menschen bereits sehr viel abverlangt.
E ines meiner Lieblingsbücher ist „An Awesome Book!“ von Dallas Clayton. Es gehört zu den Büchern, die auf den ersten Blick in die Kategorie Kinderbuch fallen, aber viel häufiger auch von Erwachsenen gelesen werden sollten. Auf dem Cover ist ein zotteliges grünes Monster abgebildet. Es hält in beiden Händen den Erdball und hat das Maul weit aufgerissen, so als würde es extrem über die Welt staunen. Auf der Rückseite sind ein paar Einhörner auf Skateboards und mit Raketen auf dem Rücken zu sehen und das Buch wird beschrieben mit dem Satz „a little book about dreaming big“, also „ein kleines Buch über großes Träumen“.
Ich schreibe das hier, weil ich das Gefühl habe, dass wir dieses Jahr mit Meinungsstücken durch sind. Für eine Kolumnistin keine hilfreiche Erkenntnis, ist das hier ein prädestinierter Meinungsplatz. Mein Job ist eigentlich auch, eine Meinung zu haben. Doch weniger, um Recht zu haben, sondern um etwas zum gemeinschaftlichen Nachdenken beizutragen.
Wie bei vielen Dingen bin ich mir dieses Jahr allerdings nicht mehr so sicher, wie genau das funktioniert, gemeinschaftlich nachdenken. Weil es so viele Baustellen gibt, und sie alle drängen. Weil wir uns an Todeszahlen gewöhnen und uns keine Wege mehr einfallen, Missstände so zu erzählen, dass sie uns berühren. Aber wie ich es drehe und wende komme ich immer wieder an den Punkt, dass gerade genug gemeint ist.
Wichtige Ansichten sind schon aus vielen klugen Mündern gesagt: Das Gesundheitssystem ist im Arsch. Solidarität ist mehr als Performance. Horst Seehofer ist weiterhin kein geeigneter Innenminister. Wir brauchen eine langfristige Strategie gegen Rechtsextremismus und Rassismus. Ein Lockdown light ist kein Lockdown. Europäische Überlegenheit is over. Die Krise trifft nicht alle gleich. Applaus bezahlt keine Miete. Menschen brauchen Hoffnung. Sie wissen schon.
In dem Buch von Dallas Clayton geht es um keines dieser Dinge, jedenfalls nicht direkt. Es geht um magische Boote aus Wassermelonen und um Autos, die nicht mit Benzin sondern mit Jelly Beans fahren. Um Menschen, die aufgehört haben zu träumen, und um die, die es gar nicht erst versuchen. Und um Orte, vielleicht auch Zeiten, in denen Träume es besonders schwer haben, weil die Realität den Menschen sehr viel abverlangt.
Ich denke, dass gerade so eine Zeit ist. Und gerade deshalb ist es nicht nur kurz schön, sondern auch langfristig nötig, von Wassermelonenbooten zu lesen. Fantasie ist ja viel mehr als Realitätsflucht (obwohl die ab und an eine absolut legitime Sache ist). Nur wer sich Dinge vorstellen kann, die außerhalb des tatsächlich Möglichen liegen, ist auch dazu in der Lage, die Realität ein bisschen besser zu machen. Wirklich revolutionäre Ideen kommen selten davon, dass man 30 Jahre lang die gleichen Phrasen durchkaut. Und vielleicht brauchen wir das, gegen die Gewöhnung und die Müdigkeit: kleine oder große fantastische Revolutionen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Vorgezogene Bundestagswahl
Ist Scholz noch der richtige Kandidat?
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
USA
Effizienter sparen mit Elon Musk
Ein-Euro-Jobs als Druckmittel
Die Zwangsarbeit kehrt zurück
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Aus dem Leben eines Flaschensammlers
„Sie nehmen mich wahr als Müll“