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November beginnt hartDie Blätter rauschen. Schlaf kommt

Draußen geht alles vor die Hunde. Eine warme Jacke wird gesucht und nicht gefunden. Die Kinder schreiben Wunschzettel.

Als sie aufwacht, sieht sie Schafe auf dem Tempelhofer Feld Foto: Fabian Sommer/dpa

I ch sitze hier und schreibe diesen Text, und draußen geht alles vor die Hunde. Eben hat Trump sich hingestellt und behauptet, die Wahl gewonnen zu haben, obwohl noch nicht fertig ausgezählt ist. Wien hockt in Schockstarre. Die Infektionskarte für Deutschland färbt sich dunkelrot. Die Straßen von SO36 sind jetzt abends so leer, dass mir der routinemäßige Spätabendspaziergang allein zu unheimlich ist. Einer Freundin, die in der Linienstraße wohnt, schlage ich gemeinsames Gehen vor. Sie schreibt zurück: „Mittlerweile werden hier in Mitte ja Bomben in Hauseingängen gezündet und Kinder im Park erstochen, also vielleicht auch nicht ideal?“ Herrgottssakra.

Ich unternehme Dinge, die Zuversicht versprechen. Gehe am vorletzten Oktobertag ins Kino und schaue „Und morgen die ganze Welt“. Aber auch wenn am Ende als Funke der Hoffnung ein Nazi-Lager in die Luft fliegt: Ich fühle mich vorgeführt. Schließlich braucht es bloß drei Elemente, damit die Protagonistin ihre hübsche Antifa-Militanz entwickelt: die Sicherheit eines wohlsituierten Elternhauses, ein ausgeprägtes Faible für Welterrettung und den Crush auf durchtrainierte Kriegerkörper. Schäm.

Danach brauche ich dringend Bier. Um zwei vor elf erhaschen wir noch ein paar Flaschen im Späti, dessen Rollläden schon halb heruntergelassen sind, während die Betreiber hinter der Kasse Oud spielen und traurige türkische Volkslieder singen. Wir trinken auf dem Zickenplatz, ergehen uns in Erinnerungen an Anti-Castor-Aktivismus im Wendland, Eierwürfe in Düsseldorf und Nazi-Prügeleien in Wasserburg am Inn.

Daunenjacke in Knallfarbe

Als Nächstes versuche ich, mir ein Wohlfühlkleidungsstück für den Coronawinter zu kaufen. Es soll ein wandelnder Schlafsack sein, gefüllt mit tierlieb gezupften Daunen – erst dann dem Tier entrissen, wenn es quasi schon als Pekingente auf dem Teller liegt – und bitte in einer optimistischen Knallfarbe.

Der Outdoor-Händler am Oranienplatz lacht sich schlapp. Knallfarbe? Dafür gebe es in Kreuzberg null Nachfrage, die Kundschaft wolle es schwarz, ob ich das nicht wisse. Wusste ich nicht. Ich dachte: Wenn irgendwo in diesem Der-Tod-ist-ein-Meister-aus-Land den Knallfarben der Vorzug vor Aschetönen gegeben wird, dann in meinem Bunt-is-beautiful-Xberg. Verstört verlasse ich den Laden. Erst später kommt mir der Strohhalm-Gedanke: Könnte es eine Antifa ohne Nachwuchsprobleme sein, die sich so konsequent in Schwarz hüllt?

Zu Hause haben die Kinder schon Wunschzettel für Weihnachten geschrieben. Das kleine Kind hat „1 merschweinchen, 1 eipet, 1 planschbeken, eine faradkwitsche“ notiert und hübsche Sternchen auf den Zettel gemalt. Die große Tochter hat ein Fußballtrikot, einen Fußball, einen Tischkicker, einen Ausflug ins Fußballstadion und einen „Nerf Ultra One Blaster“ auf die Liste gesetzt. Letzteres ist ein Spielzeug-MG, das aus einem Trommelmagazin Schaumstoffpfeile abschießt.

Ist das jetzt gelungene emanzipatorisch-feministische Erziehung oder die nächste Generation einer sich neu verhärtenden Welt?

Ich wünsche Komplexitätsreduktion und betrete im goldenen Licht des Novemberanfangs das Tempelhofer Feld. Himmel, Wolken, gehen, durchatmen. Nach 200 Metern fühle ich nichts als Erschöpfung und muss mich setzen. Ich lehne am Stamm eines kleinen Ahorns, höre die Blätter rauschen und schlafe ein. Mitten am Tag. Als ich aufwache, ziehen links von mir friedliche Schafe vorbei. Zu meiner Rechten hält sich Jackie Thomae ein Handy ans Ohr und plant eine Buchpremiere im HKW. Vielleicht bin ich aber auch nicht mehr wach geworden.

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