Legitimierung von Corona-Maßnahmen: Parlamentarier vermissen Demokratie
Wie können die Parlamente in die Corona-Bekämpfung einbezogen werden? Oppositions-Abgeordnete fordern stärkere Mitwirkung. Bremen prescht vor.
Die Grünen lamentierten nicht, sondern reichten gleich zehn Anträge ein, die aktuelle niedersächsische Corona-Verordnung abzuschwächen. Die Rettung der Gastronomie und die Öffnung der Tierparks standen dabei im Fokus. Doch alle grünen Anträge wurden von SPD und CDU in die Fachausschüsse überwiesen und damit auf die lange Parlamentsbank geschoben. Bevor erneut über sie entschieden werden kann, dürften sie sich längst überholt haben.
Die niedersächsische Landtagsdebatte zeigt: Im Corona-Zeitalter sucht das Parlament seinen Platz. Seit die wichtigsten Entscheidungen zur Pandemie-Bekämpfung von einer informellen Runde der Kanzlerin und der 16 Ministerpräsident*innen und Regierenden Bürgermeistern der Stadtstaaten getroffen werden, sind die Landtage, Bürgerschaften und auch der Bundestag ihrer legislativen Funktion im Kern beraubt. Seit acht Monaten wird per Erlass regiert. „Es bedarf aufgrund des dynamischen Infektionsgeschehens nun mal kurzfristiger Entscheidungen“, rechtfertigte SPD-Mann Siebels diese Praxis.
Möglich macht das Paragraph 80 des Grundgesetzes, in dem steht: „Durch Gesetz können die Bundesregierung, ein Bundesminister oder die Landesregierungen ermächtigt werden, Rechtsverordnungen zu erlassen.“ Das Gesetz, das dies in Sachen Corona erlaubt, ist das angejahrte Infektionsschutzgesetz. Und da in dem Grundgesetzparagraphen das Wort „ermächtigt“ steht, sind die Kritiker*innen der Pandemie-Praxis schnell mit der Vokabel „Ermächtigungsgesetz“ und einem Vergleich der Gegenwart mit dem Dritten Reich dabei.
Machtbalance aus den Fugen
Doch auch wer nicht das böse E-Wort benutzt, muss konstatieren: Die Machtbalance zwischen Parlament und Exekutive ist aus den Fugen. Die FDP spricht von „Parlamentsverzwergung“. Da hilft es auch nichts, wenn der SPD-Abgeordnete Siebels aufzählt, wie intensiv der Landtag und seine Ausschüsse über die Corona-Maßnahmen informiert wurden. „Unterrichtet wurden wir, abstimmen durften wir nicht“, blickt der Grünen-Abgeordnete Helge Limburg den gerade in die Ausschuss-Ablage entsorgten Anträgen seiner Partei hinterher.
Während in Hannover noch lamentiert wird, verabschiedete der rot-rot-grüne Senat in Bremen am Dienstag bereits ein Gesetz „zur Stärkung der Beteiligung der Bürgerschaft“ bei Corona-Entscheidungen. Um dieses Ziel zu erreichen, sollen alle vom Senat zur Pandemiebekämpfung erlassenen Verordnungen von der Bremischen Bürgerschaft „ganz oder teilweise aufgehoben oder befristet werden“ können. Die Bürgerschaft kann damit zukünftig auch auf Landesebene gegen das Votum der Kanzlerin und der Ministerpräsident*innen opponieren.
So weit ist man anderorts noch lange nicht. In der jüngsten Bürgerschaftssitzung in Hamburg forderte die vereinte Opposition eine Einbeziehung des Parlaments in den Kampf gegen Covid-19. „Die Demokratie darf nicht ein Opfer der Pandemie werden“, warnt Anna von Treuenfels von der FDP. Wenn das Parlament aus der Pandemiebekämpfung praktisch ausgeschlossen bleibe und damit kritische Stimmen nicht in die Debatte einflössen, helfe das nur den Corona-Leugner*innen.
Cansu Özdemir, Fraktionschefin der Linkspartei, betonte, „in den ersten Wochen der Pandemie war die Einbeziehung des Parlaments nicht möglich“, heute aber seien die Alleingänge des Senats „undemokratisch“. Auch Richard Seelmaeker von der CDU beklagte ein „Demokratiedefizit“.
In Schleswig-Holstein hingegen nannte der sonst so streitbare Oppositionsführer Ralf Stegner (SPD) die Maßnahmen der Landesregierung, die oft über Bundesvorgaben hinausgehen, „vernünftig und maßvoll“ und erklärte gegenüber der taz: „Insgesamt läuft die Beteiligung des Parlaments und der Opposition ordentlich.“
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