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Figurentheater in München und BerlinWer zieht bei mir die Strippen?

Die Festivals „Wunder.“ in München und „Theater der Dinge“ in Berlin erzählen von künstlichen Körpern und machen Normen bewusst.

Das Grinsen einer Katze, Szene aus „A.L.I.C.E.“ des Stuttgarter Duos Meinhardt & Krauss Foto: Michael Krauss

„Wir müssen reden“, sagt Anna Kpok. Und wann war das je nötiger als jetzt, wo der Kultur gerade erneut der Hahn abgedreht wird: über den Wert von Kunst, über das, was wir sein wollen – und vielleicht auch über Nähe. Deshalb ist es gut, dass das gleichnamige Projekt des Berliner Kollektivs nun nach dem Ende des Münchner Figurentheaterfestivals auch in seiner Heimat zu erleben sein wird.

Wobei: „Erleben“ ist relativ. Die „Hörinstallation“ besteht in München wie in Berlin nur aus einem zehnminütigen Gespräch mit einer Performerin über kryptische Fragen wie „Wo hörst du auf?“, bei dem das eigene Telefon alles ist, was vom Objekttheater übrigbleibt. Abhängig von der eigenen Fragelust und Schlagfertigkeit ist das mehr oder weniger spannend, kommt aber als Format den Programmplanern des Berliner Festivals „Theater der Dinge“ zugute.

Denn während das Münchner Team um die Festivalleiterin Mascha Erbelding sein zweiwöchiges Programm mit rund 30 Produktionen aus Deutschland, Tschechien, Slowenien, Frankreich, Israel und der Schweiz noch punktgenau zu Ende brachte (17. 10.–1. 11), trifft der „Lockdown light“ die Schaubude und ihren künstlerischen Leiter Tim Sandweg voll.

Ohne Masken kämpfen, knutschen, kuscheln

Der jubilierende Satz, „Puppen haben kein Corona“, mit dem man das Münchner Festival „Wunder.“ noch ankündigen konnte, ist für das „Theater der Dinge“ (3. 11.–10. 11.) plötzlich wertlos geworden. Obwohl immer noch gilt, dass sich Puppen und ihre Spieler ohne Bedenken und Masken bekämpfen, beknutschen und beknuffeln können, muss das Berliner Festival komplett ins Digitale ausweichen. Aus dem ursprünglichen Thema „Künstliche Körper“ wird „Künstliche Körper im digitalen Zeitalter“.

Was das heißt, wo die Künstlichkeit der Körper für das Figuren- und Objekttheater ohnehin konstitutiv ist? In Berlin kommen vermehrt futuristische Hybridwesen ins Spiel, es läuft zum Beispiel die Preview von „1/0/1 robots“ am 9. 11., worin es laut Sandweg um die Frage geht, „wie sich Gender-Stereotype in der Robotik reproduzieren und wie man das (künstlerisch) hacken könnte“.

Festival „Theater der Dinge“

Theater der Dinge 2020. Künst­liche Körper im digitalen Zeitalter. Online Programm, 3.–10. 11., www.schaubude.berlin

Das am Sonntagnachmittag online gehende Stück „A.L.I.C.E lost in Cyberland“ des Stuttgarter Duos Meinhardt & Krauss war in München live zu sehen. Dabei waren einige Episoden von Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“ auf unterschiedlich große Bildschirme mit Handydisplay-Proportionen ausgelagert – mit oft faszinierenden, manchmal auch etwas schwerfälligen Überleitungen zwischen beiden Ebenen.

Für die Generation Internet

Deren inhaltlicher Mehrwert bleibt zwar bescheiden, aber die Inszenierung kommt angenehm unpädagogisch der Erlebniswelt der Generation Internet entgegen, die sich gerade während der Homeschooling-Etappe im ersten Lockdown gerne mal selbst in Cyber­welten verlor.

So hoppelte das weiße Kaninchen „keine Zeit, keine Zeit“ rufend als Figur über die Bühne und sein elektronisches Konterfei auf den diversen Displays weiter, und die in diversen Größen auftretenden Alice-Puppen „tauchen“ einen Arm oder den ganzen Körper in einen Bildschirm ein, wo ihre Konturen zerfließen oder plötzlich das Bild eines realen Mädchens erscheint.

Im Stream wird dann auch die von Meinhardt und Krauss selbst verkörperte Teegesellschaft mit ihren technoid-fantastischen Kopfbedeckungen nur digital vermittelt zu sehen sein, was dem Abend über fluide Übergänge zwischen biologischen, mechanischen und digitalen Körpern vielleicht eine weitere Brechung hinzufügt.

Und falls nicht, wird immerhin die Vielfalt des Figurentheaters deutlich, das nicht zwingend auf den Zauber abonniert ist, den man gemeinhin mit ihm assoziiert. Auch wenn die poetische, auf der Schwelle zwischen Leben und Tod, realer und Geisterwelt angesiedelte Produktion „Traversées“ des Théâtre de l’Entrouvert ein, ja vielleicht das Münchner Highlight war, weil Élise Vigneron in diesem traumschönen Stationendrama mithilfe einer ganzen Reihe von künstlichen Körpern in eine andere Welt entführte.

Mal stand sie dafür mit bloßen Füßen und nassem Kleid im eiskalten Innenhof des Münchner Stadtmuseums selbst im Gegenlicht, dann wieder kreierte sie mit einem Puppenkopf an ihrem Hinterteil eine seltsam in sich verdrehte Körperlichkeit oder zauberte die wohl fragilste Figur des Festivals in einen Miniatur-Guckkasten hinein. Wozu? Einfach, weil zaubern schön ist.

Aufforderung zur Befreiung

Das Münchner Figurentheaterfestival hat in seinem neuen Namen „Wunder.“ – was man „wunder Punkt“ ausspricht – versucht, die Ambivalenz festzuhalten, dass diese Theaterform durchaus auch harte Fakten anpacken kann. Von dem ursprünglichen Festivalthema Macht und Geschichte sind freilich nur Reste geblieben wie etwa „Queer Papa Queer“, worin sich die Berliner Puppenspielerin Ute Kahmann mit der eigenen Familiengeschichte und der schwulen Lebenswelt in Ost- und Westdeutschland auseinandersetzt. Denn auch in München musste coronabedingt umdisponiert werden: Viele Gruppen kamen mit weniger personalintensiven Stücken oder Outdoorversionen.

Auf physischer Kopräsenz wurde nach Möglichkeit beharrt, die Grenzen dessen, was schon eine Figur und noch Theater ist, wurden dagegen weit ausgelegt. So stattete etwa der israelische Theatermacher Ariel Doron einen an unterschiedlichen Spielorten auftauchenden Fahrradanhänger mit einer elektronischen Stimme aus, die eindringlich um Befreiung bat – und offenbar nur von Kindern befreit werden konnte, die sich, anders als die meisten Erwachsenen, nicht darum scheren, dass an der einzig zugänglichen Stelle des Anhängers „nicht öffnen“ stand. Was uns zwar wenig über Körper, aber viel über reflexhaften Gehorsam verrät.

Ein großer Meister in der Entlarvung dieses Reflexes ist der slowenische Puppenspieler und Musiker Matija Solce vom tschechischen Tea­tro Matita, der in „Happy Bones“ Existenzielles mit einem knuddeligen Panda verhandelt. Der ist es leid, die Hand des Puppenspielers in seinem Hintern zu spüren und nimmt im anarchischen Selbstbefreiungsfuror sogar seinen eigenen Bühnentod in Kauf.

„Punch Agathe“ läuft über den Marienplatz in München Foto: Franz Kimmel

Ich habe „Happy Bones“ als Aufzeichnung gesehen und nur eine Kostprobe von Solces Können live vor Ort, der seine Zuschauer ebenso raffiniert wie seine aus ein paar Knochen, Socken und viel Nichts improvisierten Puppen manipuliert. Bis die Zuschauer es plötzlich merken, vielleicht wacher auf ihr Alltagshandeln blicken und sich fragen: Wie viel Puppe steckt in mir? Wessen Hand steckt in meinem Allerwertesten und warum lasse ich es zu?

Solce löst solche Reaktionen durch sein schlitzohriges Kalkül aus, andere Puppenspieler oder künstliche Körper verraten uns viel über Normen, einfach, indem sie sie brechen. So etwa „Punch Agathe“: Der 16 Meter hohe Hüne ist nicht nur der größte Kasperl der Welt, sondern obendrein schwarz und weiblich. Mit Luft und einer Menge Technik gefüllt, hat sich die rebellische Dame in München auf Shoppingtour unters Volk gemischt: Exotisch, extravagant, kolossal passt die Gemeinschaftsproduktion der Kompanien Gütesiegel Kultur/Stuttgart, Snuff Puppets/Melbourne und Espace Masolo/Kinshasa weder in die lustige Kasperl- noch in eine andere Schublade und verkörperte en passant mitten in der bayerischen Landeshauptstadt die Komplexität dieser Welt.

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