Kunst und Landschaft: Die blaue Avantgarde
Vielfältige Perspektiven auf den Expressionismus: Ein Streifzug durch die „MuSeenlandschaft“ zwischen München und Murnau.
Nein, Franz Marcs Blaues Pferd kann heute keinen mehr verstören. Die Ikone des Expressionismus schmückt Hotelhallen und Zahnarztpraxen, aber ist damit schon alles gesagt über den Blauen Reiter, jene Künstlergruppe der Klassischen Moderne, die Marc zusammen mit Wassily Kandinsky um 1911 herum begründete? Hat sich die Sprengkraft der einst als entartet stigmatisierten Kunst in Wohlgefallen aufgelöst?
Antworten versucht die oberbayerische MuSeenlandschaft, eine Kooperation von fünf Museen rund um Starnberger, Kochel-, Walchen- und Staffelsee zu geben. Hier werden nicht nur die Werke des Blauen Reiters in ambitionierten Gebäuden präsentiert. Die Orte selbst und ihre Umgebung waren Inspirationsquellen für die Künstler. Die Gegend um Murnau vermarktet sich deshalb als das „Blaue Land“. Auch wenn der Staffelsee und die Berge je nach Lichteinfall tatsächlich bläulich schimmern und Franz Marc den Begriff „Blaues Land“ in einem Brief erwähnt – es ist eine pfiffige Marketingidee.
Ein guter Ausgangspunkt ist Murnau, der Ort, der von 1909 bis 1914 Lebensmittelpunkt von Wassily Kandinsky und Gabriele Münter war. 1908 waren sie zusammen mit Alexej Jawlensky und Marianne von Werefkin zum ersten Mal hierhergekommen, später haben sie sich im Münterhaus niedergelassen, das heute als Museum mit seinem blühenden Garten an Bullerbü erinnert.
Sie waren keineswegs die Ersten, die Murnau für sich entdeckten. Mit der Einweihung der Eisenbahnstrecke von München nach Garmisch entflohen bereits zahlreiche Münchner der Großstadt, um in den Voralpen ihre Landlust zu stillen. Mit seinen pastellfarbenen, vom Verschönerungsverein bemalten Häusern, wo sich heute kleine Läden, Konditoreien, Lokale – und überdurchschnittlich viele Heilpraktiker – aneinanderreihen, muss das Städtchen schon damals eine Augenweide gewesen sein. Dazu gesellen sich der Staffelsee, die saftig grüne Hügellandschaft der Voralpen und das Murnauer Moos, die größte intakte Moorlandschaft in Mitteleuropa.
Die MuSeenlandschaft
Zwischen Murnau und München liegen die fünf Museen mit Expressionismus-Schwerpunkt. Sie kooperieren nicht nur in Bezug auf eine große Ausstellungsreihe im Sommer 2021, sie sind auch durch einen circa 185 Kilometer langen Fahrradweg verbunden, der sich in drei bis fünf Tagesetappen bewältigen lässt. Dazu werden auch geführte Touren und Übernachtungen angeboten. Tourenbeschreibung: www.museenlandschaft-expressionismus.de
Die Ausstellungen
Im Schlossmuseum in Murnau am Staffelsee ist neben der regulären Sammlung bis Juli 2021 die Sonderausstellung „Innen, außen, drinnen, draußen – Aquarelle und Grafiken der Klassischen Moderne“ zu sehen (www.schlossmuseum-murnau.de). Sehenswert ist auch das Münterhaus. Das Franz Marc Museum in Kochel am See zeigt neben der Sammlung mit Werken Franz Marcs und des Blauen Reiters bis Ende Januar 2021 eine Ausstellung mit Skulpturen des Künstlers sowie „Anselm Kiefer. Opus Magnum“ (www.franz-marc-museum). Der Schwerpunkt des Museums in Penzberg ist die Sammlung Heinrich Campendonk, die ab 18. Dezember eine Sonderschau zum Thema Hinterglasmalerei ergänzt (www.museum-penzberg.de). Das Buchheim Museum der Phantasie in Bernried präsentiert bis März 2021 außer den übrigen Sammlungen die Sonderschau „Erich Heckel. Einfühlung und Ausdruck“ (www.buchheimmuseum.de). Die größte Blaue-Reiter-Sammlung beherbergt das Lenbachhaus in München. Zusätzlich beschäftigt sich die Ausstellung „Unter freiem Himmel“ mit den Reisen von Gabriele Münter und Wassily Kandinsky, bis Juni 2021 (www.lenbachhaus.de).
So unaufgeregt die flache, von Feuchtwiesen überzogene Ebene, so spektakulär ist der Kontrast zur dahinter liegenden Bergkette. „Eine große Bühne“ nennt Christian Schied die Szenerie, die auch heute noch viele zum Malen lockt. Als wir den Murnauer Künstler am frühen Herbstmorgen im Moos treffen, wo sich der Nebel langsam lichtet und die Sonne hinter den Bergen hervorblinzelt, bauen auch eine dick eingemummelte Frau und ein Mann ihre Staffeleien auf, um die Umrisse der Gipfel zu skizzieren.
„Das machen die schon seit zwanzig Jahren“, kommentiert Schied, der ihnen ab und zu ein paar Anregungen gibt. Kann man sich tatsächlich so lange an immer denselben Motiven abarbeiten? „Na ja, wenn Sie länger vor dem Moos sitzen, werden Sie ganz andere Dinge sehen“, meint Schied. „Dann sind die Wiesen nicht einfach nur grün. Sie entdecken plötzlich auch intensive Orangetöne oder Violett.“
So wie die Expressionisten, die die vielfältige Farbigkeit des Licht-Schatten-Spiels in kräftige Farbflächen übersetzten. Dabei reduzierten sie die Formen auf das Wesentliche und fassten sie häufig mit dunklen Konturen ein. Ihnen ging es nicht um eine realistische Wiedergabe der Landschaft. Diese Aufgabe hatte ja bereits die Fotografie übernommen, ein Medium, mit dem sich beispielsweise Gabriele Münter intensiv beschäftigt hatte. Sie interessierten sich für die innere Wahrheit der Dinge und suchten nach Ausdrucksformen fernab von der akademischen Malweise. Und fanden sie: „Ich habe da nach einer kurzen Zeit der Qual einen großen Sprung gemacht – vom Naturabmalen – mehr oder weniger impressionistisch – zum Fühlen eines Inhalts, zum Abstrahieren – zum Geben eines Extraktes“, schrieb die Malerin rückblickend auf jene Zeit.
Wie dieser Übergang vonstattenging, zeigt die Sammlung von Gemälden, Zeichnungen und Druckgrafiken des Blauen Reiters im Schlossmuseum von Murnau. Während Kandinskys Bild von Rapallo noch ganz impressionistisch geprägt ist, gehen andere Gemälde bereits stramm in Richtung Abstraktion. Inspirationsquelle war jedoch nicht allein die Landschaft. „Die Künstler griffen auch auf die bayerische Volkskunst zurück, weil sie die verzopfte akademische Malerei satthatten“, erklärt Museumsleiterin Sandra Uhrig und verweist auf die Hinterglasmalerei im Museum. Von der legten die Maler eine ganze Sammlung an und bildeten sie auch in ihrem Almanach ab.
Kunst als Kulisse
Mit dem Jahrbuch, einer der wichtigsten Programmschriften des 20. Jahrhunderts, die Marc und Kandinsky im Zusammenhang mit zwei Ausstellungen in München herausgaben, trat die Künstlergruppe dann 1912 erstmals offiziell in Erscheinung. „Den Namen Der Blaue Reiter erfanden wir am Kaffeetisch in der Gartenlaube in Sindelsdorf. Beide liebten wir Blau, Marc – Pferde, ich – Reiter. So kam der Name von selbst“, erinnerte sich Kandinsky später.
Nicht weit von jener Gartenlaube in Sindelsdorf entfernt steht heute das Franz Marc Museum in Kochel am See, das mehrere hundert Arbeiten des Künstlers und seiner Zeitgenossen beherbergt. Für sie entstand 2008 ein großer hermetischer Kubus aus Muschelkalk. Einziger Schmuck sind große Panoramafenster, die den Blick auf die Gebirgslandschaft am Kochelsee freigeben – und Besucher mitunter auch zum Relaxing Yoga einladen.
Um eine Antwort auf die Frage, wie Franz Marc solche Aktivitäten finden würde, ist die Direktorin nicht verlegen: „Er hat sich ja mit Buddhismus beschäftigt, und in seinen Skizzenbüchern finden sich auch Yoga-Positionen“, sagt Cathrin Klingsöhr-Leroy.
Zum Beweis holt sie einschlägige Fotokopien aus dem Archiv. Ob es aber auch im Sinn des Künstlers gewesen wäre, dass sein „Springendes Pferd“ die Kulisse für Hochzeiten abgibt? Tatsächlich steigt am späten Vormittag ein Brautpaar, sie im ärmellosen weißen Kleid, er im dunkelblauen Anzug, aus dem Wagen und wird von einer Luftballons schwenkenden Hochzeitsgesellschaft empfangen, um anschließend im Kunsttempel den Bund fürs Leben zu schließen. Ist die Avantgardekunst heute eben doch nur noch schönes Beiwerk?
Immerhin sucht das Museum auch den Dialog mit der bisweilen sperrigen zeitgenössischen Kunst. Noch bis Februar 2021 ist eine grandiose Ausstellung von Installationen Anselm Kiefers zu sehen, die sich mit Themen wie dem Holocaust auseinandersetzen. Wie Marcs sind auch Kiefers Werke in der deutschen Romantik verwurzelt. Wenn Hochzeiten helfen, solche Gegenüberstellungen zu finanzieren, muss die Kunst das wohl über sich ergehen lassen!
Die Befürchtung, dass Exponate zu gefällig werden könnten, kennt man im Buchheim Museum der Phantasie in Bernried ohnehin nicht. „Nie wieder soll uns jemand diktieren, was Kunst ist“, lautet das Credo des streitbaren Museumsgründers und Erfolgsautors von „Das Boot“, Lothar-Günther Buchheim, der als Künstler auch in NS-Propaganda verstrickt war. Sein Haus will den Besuchern Kunst, Genuss und Erholung am Starnberger See, dem liebsten Ausflugsziel der Münchner, bieten. Familien strömen in das schnörkellose Gebäude. Im Inneren erwartet sie ein Mix aus Minizirkus, Trödel – und eine beachtliche Sammlung expressionistischer Kunst. Schwerpunkt sind die Brücke-Maler.
Christian Schied, Künstler
Anders als der Blaue Reiter bekannten sie sich zu einem einheitlichen, figurativen Stil. Gemeinsam ist beiden Künstlergruppierungen aber der Umgang mit der autonomen Farbe, die bei ihnen einen Eigenwert bekam. „Die Berührungspunkte und Grabenkämpfe von Brücke und Blauer Reiter werden im nächsten Jahr in einer eigenen Ausstellung thematisiert“, kündigt Museumsdirektor Daniel J. Schreiber an.
Einen ganz anderen Akzent setzt das Museum in Penzberg, einer ehemaligen Bergarbeiterstadt, die sich nach 1966 mit Industriebetrieben wie MAN oder Roche neu erfand. Hier ließ sich einst Heinrich Campendonk, der jüngste der blauen Reiter, von Schornsteinen und Fördertürmen inspirieren. Seine Werke werden passenderweise in einem Zwillingsbau ausgestellt, der sich aus einem früheren Bergarbeiterhaus und seinem 2016 eröffneten pechkohleschwarzen Pendant zusammensetzt. Campendonk hat nicht nur als Einziger in seinen Werken die Industrie thematisiert. Zahlreiche Hinterglasarbeiten verraten auch seine Nähe zum Kunsthandwerk, dem er sich später im Amsterdamer Exil ganz widmete. „Traumatisiert von der Erfahrung, dass seine Kunst als ‚entartet‘ betrachtet wurde, stellte er nichts Privates mehr aus“, weiß Museumsleiterin Freia Oliv.
Inzwischen war der Blaue Reiter längst Geschichte. Franz Marc und August Macke waren im Ersten Weltkrieg gefallen, Marianne von Werefkin in Ascona, Jawlensky in Wiesbaden gestrandet, Kandinsky hatte am Bauhaus neue Wege beschritten. Nur Gabriele Münter lebte und malte noch in Murnau. Wie eine Gralshüterin hat sie in der frühen Hochburg der NSDAP auch Kandinskys Werke vor dem Zugriff der Nazis gerettet. 1957 vermachte sie ihre umfangreiche Sammlung der Stadt München. So eröffnete im Lenbachhaus, einer toskanisch anmutenden Villa mit einem 2013 eröffneten minimalistischen Anbau, die weltgrößte Blaue-Reiter-Sammlung das umfassendste Panorama auf die einstige Avantgarde.
Mag sein, dass heute viele sie sich an die Wand hängen, ohne etwas von der Zivilisationskritik und den künstlerischen Innovationen des Blauen Reiters zu ahnen. Aber das kann den künstlerischen Akt nicht schmälern.
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