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Anna Prizkaus „Fast ein neues Leben“Nicht mehr hübsch, nur kaputt

Das menschliche Drama entfalten: Anna Prizkaus Debüt „Fast ein neues Leben“ über ein Mädchen im neuen Land. Heute Abend live im taz-talk.

Anna Prizkau. „Fast ein neues Leben“ sind ihre zwölf Erzählungen betitelt Foto: Julia von Vietinghoff

Es ist ein ein schönes und wahrhaftiges, ein trauriges und manchmal beklemmendes Buch, das Anna Prizkau geschrieben hat. „Fast ein neues Leben“ heißt es. Es ist ihr erstes und versammelt zwölf Erzählungen, klassische Short Stories, die für sich stehen, zusammen aber die Geschichte eines Mädchens erzählen, das in seinem neuen Land, Deutschland, erwachsen wird.

Es ist nur „fast ein neues Leben“, weil die Menschen, die dem Mädchen begegnen, ihr es nicht zugestehen wollen. Mal subtil, mit Bemerkungen und Fragen, mal brutal, mit Schlägen und Fußtritten, wird die Erzählerin daran erinnert, dass sie als Kind aus ihrem alten Land gekommen, dass sie „Ausländerin“ ist. Sie spürt es, sie weiß es und sie versucht ihre Herkunft, so gut es geht, zu verbergen: „Kein Mensch kannte mich, wie ich früher war.“

Die Verleugnung der Herkunft soll die Eintrittskarte ins neue Leben sein. Sie schämt sich für ihre Eltern, aus deren Mund nur ein Wort kommen muss, um ihr Anderssein zu verraten. Mit der Scham kommen die Lügen, durch die Lügen wird die Scham noch größer, und der Wunsch dazuzugehören hat noch weniger Aussicht auf Erfüllung.

Derzeit erleben wir eine Welle von Romanen von jungen Frauen und Männern (die jungen Frauen sind eindeutig in der Überzahl), die von ihren Erfahrungen als Kinder von Einwanderern erzählen. Manche dieser Bücher sind literarisch aufregend, verstörend, herausfordernd. Die meisten sind es nicht. Oft sind es die Letzteren, die besonders erfolgreich sind, woraus sich schließen lässt, dass viele diese Bücher nicht lesen, weil sie herausgefordert werden wollen. „Thema“ schlägt Sprache, und „Authentizität“ wird nicht durch präzise Beobachtung und Beschreibung des Widersprüchlichen verbürgt, sondern mittels Bestätigung des bereits vermeintlich Gewussten.

Das Buch

Anna Prizkau: „Fast ein neues Leben“. Friedenauer Presse, Berlin 2020, 111 Seiten, 18 Euro.

„Fast ein neues Leben“ zählt nicht zu diesen Büchern. In jeder von Prizkaus Geschichten gibt es einen unauflösbaren Konflikt, ein Drama, das unaufhaltsam eintreten muss, weil die Verhältnisse so sind, wie sie sind. Es ist das menschliche Drama, das sich nur beispielhaft im Drama des Mädchens aus dem alten Land entwickelt, das „Angst vor dieser einen Frage“ hat: „Woher kommst du?“

Der Vater verliebt sich im Urlaub mit der Tochter in eine Frau. Die Tochter wünscht sich, dass der Vater eine neue Liebe findet, obwohl er die Mutter umsorgt, die im neuen Land so unglücklich ist, dass sie davon krank wird. Oder: Die Erzählerin kann ihrem Freund nicht erzählen, dass Männer sie geschlagen haben, weil sie dann das Geheimnis ihrer Herkunft preisgeben müsste. Sie hatte in der Straßenbahn telefoniert, in der Sprache des alten Landes. Oder: Vater und Tochter ermuntern die Mutter, nicht zu kündigen, obwohl sie wissen, dass der Boss mehr von der Mutter will und bekommt als ihre Arbeit. Wenn die Mutter weint, ist sie „nicht mehr hübsch, nur kaputt“.

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Der taz Talk mit Anna Prizkau

Als Kind schämt sie sich für ihre Eltern. Am „Hallo“ ihres Vaters erkennt man schon, dass er kein Deutscher ist. Neben der neuen, rätselhaften Freundlichkeit, bleiernen Höflichkeit und warmen Distanziertheit, mit der sich das fremde Mädchen konfrontiert sieht, muss es immer wieder Schläge einstecken.

Als junge Frau bringt ihr die Sprache ihres alten Landes, im falschen Moment und vor den falschen Leuten gesprochen, geprellte Rippen und eine aufgeplatzte Lippe ein. Doch sie schlägt zurück. In den zwölf Erzählungen ihres Debüts „Fast ein neues Leben“ (Friedenauer Presse, 2020) lässt Anna Prizkau ihre Ich-Erzählerin durch die Vergangenheit streifen. Es geht um Liebesgeschichten, den traurigen Vater, die depressive Mutter, eine wiedergefundene Tante und übergriffige Männer.

Anna Prizkau migrierte in den 90er-Jahren gemeinsam mit ihrer Familie von Moskau nach Deutschland. Nach ihrer Studienzeit in Berlin und Hamburg wohnt die Autorin heute in Berlin und schreibt seit 2016 für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Der Erzählband „Fast ein neues Leben“ ist beim Fridenauer Presse Verlag erschienen. | Lust auf mehr Talks der taz? taz.de/talk

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Auch die deutschen Familien sind kaputt, nicht weniger jedenfalls als die von Samiha und Olcay aus dem „Türkenkinderviertel“, mit denen die Erzählerin spielt, weil die deutschen Kinder in den Hort gehen, die Kinder der Fremden aber nicht, weil deren Eltern weniger Geld haben und die Formulare nicht ausfüllen können. Die Türkenkinder und die Erzählerin haben noch etwas anderes gemein: Sie werden „wie seltene und unerforschte Tiere angestarrt und gefürchtet“.

Anna Prizkaus kurze, harte Geschichten bezeugen mit ihren kurzen, geschliffenen Sätzen den Triumph der Literatur über ein Schreiben, das seine Autorinnen, Protagonisten und Leserinnen im Käfig der „Identität“ gefangen hält. Die einen sitzen drin, die anderen schauen drauf.

Anna Prizkau ist heute Abend im taz-talk zur Buchmesse und spricht über ihr Debüt „Fast ein neues Leben“. Alle Talks zur Buchmesse im Überblick finden Sie hier.

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