piwik no script img

Fotobuch und Ausstellung „Behelfsheim“Aussterbende Provisorien

Die Hamburger Fotografen Enver Hirsch und Philipp Meuser würdigen die verschwindenden Behelfsheime der Nachkriegszeit in einem Fotobuch.

Bedrohte, aber berechtigte Wohnform in einer vielfältigen Stadt: Behelfsheim im Grünen Foto: Philipp Meuser, Enver Hirsch

Mitten im Sommer 2018 lancierte Gerhard Matzig in der Süddeutschen Zeitung einen polemischen Artikel: Unter der Überschrift „Laube, Liebe, Wahnsinn“ wies der für Architektur zuständige Redakteur darauf hin, dass in der Bundesrepublik 900.000 Menschen das Privileg eines Schrebergartens genössen.

Deren Flächen, oft in guten innerstädtischen Lagen, wären zusammengenommen so groß wie Köln – würden aber dem Wohnungsmarkt entzogen, während allenthalben in den Städten Wohnungsnot zu beklagen sei. Matzigs Antwort darauf: Her mit den bislang unangetasteten Ressourcen, auf dass sie Grundflächen werden für weiteren, städtisch verdichteten Wohnungsbau.

Kaum überraschend, hagelte es Leser:innenreaktionen, die neben einem ökologischen Wert für die Stadt besonders den sozialen Aspekt der Schrebergärten betonten. Denn die vermeintlich so Privilegierten, das seien ja zumeist Menschen mit geringem Einkommen, ohne eigenen Grundbesitz. Schrebergärten sind für sie und ihren Familien Orte der Erholung, Ersatz für einen Sommerurlaub und für ihre Kinder Erlebnisräume in der Natur: Das schrieb etwa eine Leserin aus Hamburg.

Die Stadt scheint eine Hochburg der Schrebergärtnerei zu sein. Der Verein „Horner Marsch“ etwa rühmt sich, europaweit einer der größten Kleingartenvereine zu sein: 1.000 Parzellen, davon rund 145 immer noch von sogenannten „Festbewohnern“ belegt. Oder die benachbarte, 1907 aufgespülte, 38 Hektar große Billerhuder Insel: Sie ist seit Jahrzehnten als Vorhaltefläche für Wohnen oder Industrie ausgewiesen, ihre Kleingartennutzung, etwa 500 Parzellen, scheint bislang jedoch sakrosankt.

Buch und Bilder

Enver Hirsch und Philipp Meuser: Behelfsheim, 148 S., 35 Euro, ISBN 978-3-00-065630-9, zu beziehen über https://behelfsheim.com

Ausstellung: bis 17.12., Freelens-Galerie Hamburg, Alter Steinweg 15. https://freelens.com/galerie/aktuelle-ausstellung/

Über „Festbewohner“ äußert man sich dort nicht, in ganz Hamburg soll es aber noch einige Hundert ehemalige, irgendwann dauerhaft bewohnte Provisorien geben – nicht nur in Schrebergärten. Sie sind Relikte aus den Jahren von 1943 bis weit nach Ende des Zweiten Weltkriegs, als Ausgebombte oder Geflüchtete in selbst errichteten Kleinst-Eigenheimen Obdach fanden.

Derartige Notprogramme haben aber eine längere Tradition. In Deutschland etwa waren sie in den frühen 1920er-Jahren und während der Weltwirtschaftskrise ab 1929 Bestandteil auch wissenschaftlicher Untersuchungen: zum Wohnen für das Existenzminimum, zu sozialer Programmierung und rationeller Vorfertigung von Wohnraum. Im progressiven Altona etwa entstanden ambitionierte Erwerbslosensiedlungen – aber auch Selbsthilfeunterkünfte aus Abfallmaterial wie die „Fischkistensiedlung“ im heutigen Hamburger Stadtteil Lurup.

In Berlin organisierte der damalige Stadtbaurat Martin Wagner 1931 den Architektenwettbewerb „Das wachsende Haus“, übrigens unter prominenter Beteiligung, mit anschließender Ausstellung von 24 Musterbauten: Stets bildet ein funktionsfähiges Kleinsthaus den Nu­kleus, weitere Räume können nach Bedarf ergänzt werden. Das Ganze umgibt ein auch der Selbstversorgung dienendes Gartenland ausreichender Größe.

Diese theoretische Basisarbeit nutzte das NS-Regime, als ab 1941 die Luftangriffe der Alliierten mit immer größerer Zerstörungskraft den Wohnungsbestand trafen. Allein während der sieben Luftangriffe der „Operation Gomorrha“ zwischen dem 25. Juli und dem 3. August 1943 wurde die Hälfte des Hamburger Wohnungsbestandes zerstört, 750.000 Menschen waren danach obdachlos.

Aber das ideologisch von eindringlicher Kriegsrhetorik begleitete Programm der NS-Behelfsheime, für das eigens das „Deutsche Wohnungshilfswerk“ (DWH) gegründet wurde, war letztlich zum Scheitern verurteilt: Es mangelte nicht nur an Baumaterial und verfügbarem Grund und Boden, sondern auch an „Humanressourcen“ zum Selbstbau. Denn die Männer waren an der Front, die Frauen brauchte die Rüstungsindustrie.

So weist eine Erhebung für das Jahr 1949 in Hamburg nur etwa 3.600 offizielle Behelfsheime vom DWH aus, dafür rund 45.000 aus der Nachkriegszeit. Auch sie konnten mit vereinfachter – oder wohl ganz ohne – Genehmigung errichtet werden, ein Nutzungsrecht war zeitlich unbeschränkt.

Dem im Stadtbild verbliebenen Rest dieser Wohnform haben die Fotografen Enver Hirsch und Philipp Meuser, beide 1968 in Hamburg geboren, seit über zwei Jahren nachgespürt. Sie arbeiten dokumentarisch, hatten als Off-Beitrag zur Foto-Triennale 2018 die Gruppenausstellung „Sightseeing the Real“ mitveranstaltet, schon mit Vorschau auf ihr nun in Buchform gebrachtes Projekt „Behelfsheim“. Anders als viele Kolleg:innen in der Dokumentarfotografie wollten sich beide nicht immer nur exotischen Themen in fernen Ländern widmen, sondern ihre Beschäftigung mit autonomem Wohnen – Philipp Meuser – sowie Provisorien – Enver Hirsch – bündeln und vor Ort realisieren.

Plädoyer für vielfältiges Wohnen

Ihr Buch ist aber mehr als eine fotografische Bestandsaufnahme pittoresker Baurelikte: Hirsch und Meuser plädieren für ein anderes Verständnis von Stadt und Wohnen. Viele der vormaligen Behelfsheime haben sich zu stattlichen Wohnsitzen gemausert, es wurde angebaut und aufgestockt, was das Herz begehrt. Meuser sieht sie als aktuell – nicht nur in Hamburg – bedrohte, aber berechtigte Wohnform in einer vielfältigen Stadt, die mehr bieten muss als die Wahl zwischen Geschosswohnungsbau und unerschwinglicher Elbvilla.

So fällt der Blick auf so manch ungefüges Detail dieser baulichen Selbstermächtigungen zwar mit feiner Ironie, aber ohne ästhetische Häme aus. Die Wertschätzung der beiden Fotografen gilt gerade diesem besonderen Charme, der mehr erzählt über die Menschen, als ein Porträtfoto von ihnen je zu sagen vermöchte. Ein Essay des Architekturtheoretikers Jan Engelke – er forscht in München zum Eigenheim in Zeiten des Wirtschaftswunders – liefert dem Buch die geschichtliche Einordnung. Und ein fiktives Diskussionsformat zur Zukunft des Behelfsheims stellt den Bezug zu den Begehrlichkeiten derzeitigen Stadtplanungsgeschehens her.

Zu beziehen ist „Behelfsheim“ für die Dauer der Ausstellung in der Hamburger Frelens-Gamier oder über die Homepage der beiden Fotografen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!