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Samantha Schweblin „Hundert Augen“Überwachen und kuscheln

Die argentinische Autorin schreibt Geschichten wie unbehagliche Träume. In ihrem aktuellen Roman geht es um ferngesteuerte Plüschtiere.

Man versteht genau, warum Menschen sich auf dieses schräge Spiel einlassen Foto: Chrisitan Mang

Neuerdings verschenkt Samanta Schweblin gern altes Miniaturspielzeug. Auf ihrem Instagram-Account hat die argentinische Autorin, die seit einigen Jahren in Berlin lebt, das Foto eines winzigen Plüschvogels geteilt. Sie finde die Tierchen auf Flohmärkten, schreibt Schweblin, wenn man sie danach fragt, und sie kämen ihr vor wie Glücksbringer aus vergangenen Zeiten.

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Nun wird es Menschen geben, die den Anblick dieses abgewetzten Kuscheltiers schlicht unschuldig und hübsch finden. Aber auch Menschen, die sofort an Überwachung oder Terror denken, weil sie „Hundert Augen“ gelesen haben, so heißt Schweblins neuer Roman.

In ihm geht es um eine Gesellschaft im Bann einer simplen, aber perfiden Erfindung: nämlich um Plüschtiere mit integrierten Kameras, um Pandas, Häschen und Eulen mit elektronischen Eingeweiden, durch deren Augen ein Mensch irgendwo auf dem Planeten den Tierbesitzer beobachten, sogar mit ihm interagieren kann, im Einverständnis beider Teilnehmer.

Die Spielzeuge, genannt Kentukis, bewegen sich – gesteuert vom Menschen auf der anderen Seite der Verbindung – auf rudimentären Rollen und können schnurren, quieken und kreischen, nicht aber sprechen. Wollen die Besitzer mit ihren Kentukis reden, müssen sie sich auf Morsezeichen oder andere Tricks verständigen.

Kind oder Sexualstraftäter?

Das Buch

Samanta Schweblin: „Hundert Augen“. Aus dem Spanischen von Marianne Gareis. Suhrkamp, Berlin 2020, 252 Seiten, 22 Euro

Mit wem man diese Schicksalsgemeinschaft eingeht; ob hinter dem Bildschirm ein Kind oder ein Sexualstraftäter sitzt, kann man sich beim Kauf eines Kentukis nicht aussuchen. Der Zufall entscheidet, und pro Tier wird nur eine Verbindung verkauft. Kappt einer von beiden die Verbindung, ist der Kentuki tot. Das Verblüffende: Nach 252 Seiten versteht man sehr genau, warum Menschen ihre Privatsphäre aufgeben, um sich auf dieses schräge Spiel einzulassen.

Samanta Schweblin selbst, geboren 1978, besitzt keine sprechenden Apparate, keinen „Amazon Echo“ oder sonstiges. „Ich mag die Stille zu sehr. Deshalb werde ich es immer vorziehen, eine Taste zu drücken, anstatt mit lauter Stimme Anweisungen zu geben“, schreibt Schweblin. Passend zu einem Roman über das seltsame Verhältnis von Fremdheit und Intimität im Netz unterhalten sich Schriftstellerin und Journalistin per Mail.

Seit fast 20 Jahren schreibt Schweblin Geschichten wie unbehagliche Träume, die einen beunruhigen, ohne dass man sich genau an ihren Plot erinnert. In ihren Erzählungen im Grenzbereich zwischen Alltag und surrealistischem Schauermärchen verschlingen Mädchen lebendige Vögel oder packen unablässig Kisten, um ihr Verschwinden vorzubereiten.

Ihr Roman „Das Fieber“, in dem eine sterbende Frau im Krankenhaus einem fremden Jungen ihr Leben erzählt, stand 2017 auf der Shortlist des Man Booker International Prize. Manchen gilt Schweblin als wichtigste lateinamerikanische Autorin ihrer Generation.

Menschen werden zu Kentukis

In „Hundert Augen“ erzählt sie von Menschen, die sich Kentukis als Alltagsbegleiter halten, und Menschen, die zu Kentukis werden. Manche wollen der Enge ihres Alltags entkommen oder sich nicht mehr allein fühlen, andere sind Voyeure oder Sadisten. Da ist die Pensionärin Emilia aus Peru, die in Gestalt eines Kaninchens zu ihrer jungen Kentuki-Herrin ein fast mütterliches Verhältnis entwickelt.

Der Halbwaise Marvin aus Guatemala wird zum Drachen, der sich im norwegischen Honningsvåg auf die Suche nach Schnee begibt, dabei aber die Lust an seinem Offline-Leben verliert. „In drei Wochen würde es die Noten geben, und sie würden grauenhaft ausfallen“, heißt es im Buch, „aber gerade war Marvin kein Junge mehr, der einen Drachen besaß, sondern ein Drache, der einen Jungen in sich trug.“

In Italien findet der alleinerziehende Vater Enzo in seinem Kentuki, den er rührend höflich mit „Mister“ anspricht, einen treuen Unterstützer im Haushalt, während Alina im mexikanischen Oaxaca all ihre Frustration an einer Plüschkrähe auslässt: Weil sie sich in der Künstlerresidenz, in die sie ihren Freund begleitet, ihrer Durchschnittlichkeit bewusst wird, verstümmelt sie ihren Kentuki – bis er so defizitär aussieht, wie sie sich fühlt.

Der gesichtlose Nutzer wird eine zarte Gestalt

Die Spielzeuge übernehmen in „Hundert Augen“ eine seltsame Funktion: Sie schenken dem gesichtslosen Nutzer eine lustige, zarte, schützenswerte Gestalt. „Weil ein Kentuki nicht sprechen kann, wird die Person hinter ihm in gewisser Weise zum Haustier“, mailt Schweblin. Die Idee habe sie interessiert, weil Haustiere ein Spiegelbild unseres menschlichen Bewusstseins seien. „Sie beobachten, wie wir leben, und bestätigen uns darin, dass wir real sind.“

„Hundert Augen“ spielt in 25 verschiedenen Städten. Einige Handlungsorte kannte Samanta Schweblin von Reisen oder Festivals, andere erkundete sie – wie die Kentukis im Roman – durch die Augen von Kameras vor Ort. Schweblin erzählt, wie sie einen Ladenbesitzer in Honningsvåg anschrieb, ihm die Funktionsweise der Kentukis erklärte und ihn fragte, ob sich so ein mechanisches Tier in einer bestimmten Straße seiner Stadt wohl ohne Hilfe auf dem Bürgersteig fortbewegen könnte. Nach einer Woche antwortete der Unbekannte: Ja, das klappt. Also rollte Marvins Drache im Roman selbstständig durch Honningsvåg.

Für alle Handlungsstränge hatte Schweblin eigene Recherchehelfer vor Ort. Außerdem traf sie Spezialisten für Netz- und Drohnentechnik. Sie wollte sichergehen, dass die Apparate mit heute gängigen Vorrichtungen funktionieren würden. „Es gibt nichts an einem Kentuki, dass noch nicht existiert oder nicht technisch möglich ist“, sagt Schweblin.

Smart Toys

Eine echte Dystopie ist ihr Roman nicht, allein die rechtliche Lage weicht von der Realität ab. Sogenannte Smart Toys, die zur heimlichen Ton- oder Bildaufnahme genutzt werden können, sind in Deutschland und anderen Ländern verboten. In Schweblins gar nicht so ferner Welt treiben die Kentukis von Taipeh bis Sierra Leone ihr Unwesen.

Um die Tiere entsteht ein Pandämonium der Begleiterscheinungen: Fankulte, aufgekratzte Medienberichte, Hacker, die gegen Bezahlung eine Kentuki-Verbindung an exklusive Orte versprechen, und sogar eine Kentuki-Befreiungsfront.

Schweblin ist dabei weder für moralische Bewertungen noch für Technikpessimismus zu haben. Die altprofessorale Idee, den Online-Quatsch doch einfach zu lassen, wenn man nicht von anonymen Arschlöchern drangsaliert werden will, muss gar nicht weiter diskutiert werden. In jeder Episode gibt es Momente, die sehr plausibel machen, was die Kentukis ihren Nutzern schenken können, aber auch, wie schnell Begehrlichkeiten und Verpflichtungsgefühle, Allmachtsfantasien und blanker Hass gegenüber Fremden entstehen.

Orwell und Big Brother

Samanta Schweblin sagt, sie habe „Hundert Augen“ geschrieben, um ihre Technik-Ängste zu untersuchen. „Wir sind alle sehr alert, wenn es um die Orwell’schen Idee einer mächtigen Kontrollinstanz geht, ein Staat oder eine Firma, die über unsere Privatsphäre verfügt“, sagt sie. Heute ist die „Big Brother“-Erzählung schal geworden: Spätestens seit Edward Snowdens NSA-Enthüllungen muss man sich haarsträubende Spionage-Szenarien gar nicht mehr ausdenken.

Gleichzeitig findet man sich mit Überwachungsparanoia schnell in unangenehmer Gesellschaft wieder. „Die Idee einer Kontrollinstanz ist zwar keine Vorstellung, der ich mich komplett versperre“, sagt Schweblin. In ihrem Roman wollte sie aber vor allem über individuelle Verantwortung nachdenken: An welchem Punkt verwandeln sich uninformierte Internet-User – in einer Gesellschaft, die ihrer immer selbstverständlicheren Techniknutzung kaum soziale, gesetzliche und moralische Normen auferlegt – in eine ernste Gefahr?

Immer wieder werden im Roman Menschen auf der Suche nach Nähe gedemütigt, behutsam gepflanzte Hoffnungen auf großes oder kleines Glück pulverisiert. Allerdings selten, und das unterscheidet Schweblin von vielen Autoren, um des Schockeffekts willen, nie mit spürbarer Freude an Qual und Grenzüberschreitung. Schweblins Geschichten sind verstörend, weil sie die Menschlichkeit mindestens so sorgfältig untersucht wie die Unmenschlichkeit.

Sie weiß, dass einen Grausamkeit nicht nur erschreckt, sondern ins Bodenlose fallen lässt, wenn man um die Möglichkeit von Empathie und Zärtlichkeit weiß.

Horror-Genre ist großes Lob

Schweblin sagt, sie finde Momente des Horrors in der Literatur faszinierend, weil sie die volle Aufmerksamkeit des Lesers forderten. „Wir fühlen uns gefährdet und alarmiert. Deshalb sind wir offen für alle neuen Informationen, die uns dabei helfen, diesem Zustand zu entkommen“, sagt die Schweblin. Sie selbst würde sich nicht als Horror-Autorin einordnen, dafür seien ihre Geschichten zu realistisch und lebensnah. „Aber wenn meine Arbeiten so gelesen werden, nehme ich das als großes Lob.“

Schweblins Horror braucht in „Hundert Augen“ nichts Übernatürliches, weil Menschen schrecklich genug sind, besonders im Umgang mit den Schwächsten. In einer kurzen Episode stürzt sich die Bewohnerin eines Pflegeheims weinend und brüllend in ein Wasserbecken, um den Kentuki zu retten, dessen Steuermann das Tierchen hat sterben lassen. Die Aussicht, als Haustier unter Senioren zu leben, entsprach nicht seinen Vorstellungen.

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1 Kommentar

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  • Zitat: „Wir fühlen uns [Anm: vom Horror in der Literatur] gefährdet und alarmiert. Deshalb sind wir offen für alle neuen Informationen, die uns dabei helfen, diesem Zustand zu entkommen.“

    Da kann man mal wieder sehen, wie verschieden Menschen „ticken“. Aus meinem Mund wäre es definitiv kein Lob, würde ich jemanden als „Hortor-Autorin“ bezeichnen.

    Vermutlich habe ich in den letzten 25 Jahren einfach zu viele schlechte Erfahrungen gesammelt mit Leuten, die das Gleichgewicht nicht halten können zwischen Grausamkeit und Empathie. Weil sie es nicht einmal ernsthaft versuchen. Angespornt von Sätzen wie dem eingangs zitierten, die sie offenbar nicht richtig „verdaut“ haben, lassen sie ihre Leser*innen wieder und wieder fallen. In der irren Hoffnung darauf, dass auch der zweite, dritte und x-te Aufguss ihrer Ursprungsidee noch gekauft wird, wenn der Grusel-Effekt nur groß genug ist und lange genug anhält.

    Um allerdings „ins Bodenlose“ zu fallen, brauch ich keine Bücher mehr. Heute genügt es mir, Zeitung zu lesen und Nachrichten zu schauen, denn das „Gesetz der Serie“ hat sich inzwischen rumgesprochen unter denen, die sich gern behaupten würden auf einem Markt, der immer enger wird.

    Um die grundsätzliche „Möglichkeit von Empathie und Zärtlichkeit“ zu wissen und gleichzeitig auszuhalten, was täglich an Unmenschlichkeit über den Äther schwappt, ist jedenfalls grade extrem anstrengend für mich. Denn eine eventuelle Offenheit hilft ihrem Besitzer gar nicht, wenn sie von Sadisten missbraucht wird, die ihr Opfer zwecks privater Vorteilsnahme partout nicht entkommen lassen wollen. In den medialen Angeboten solch sadistischer Möchtegern-Profiteure gibt schlicht keine Informationen, die den Fall ins Bodenlose stoppen könnten.

    Horror-Storys mit garantierter Bodenlosigkeit interessieren mich nicht. Ich finde sie langweilig, wenn auch relativ eklig. Für mich ist das kein Widerspruch, denn ich fühle mich geistig nicht wirklich zurückgeblieben. Andere offenbar schon.