Dekolonialisierung von Algorithmen: Programmierter Rassismus
In KI-Systemen schlummern immer noch rassistische Vorurteile. Der Grund: Auch künstliche Intelligenz wird von Menschen gemacht.
Wer in Großbritannien ein Visum beantragt, dessen Daten wurden bis vor Kurzem von einem Algorithmus gescreent. Die Software weist jedem Antragsteller, der für einen Studien- oder touristischen Aufenthalt in das Land einreisen will, ein grünes, gelbes oder rotes Risiko-Rating zu. Das automatisierte Verfahren wurde vom zuständigen Home Office Anfang August ausgesetzt.
Der Grund: Der Algorithmus war rassistisch. Die Behörde soll eine geheime Liste mit „verdächtigen Nationalitäten“ geführt haben, die automatisch ein rotes Risiko-Rating erhielten. Von einem „speedy boarding for white people“, einem Schnellverfahren für weiße Leute, sprach hinterher die Bürgerrechtsorganisation Foxglove. Während Weiße vom algorithmischen Grenzer durchgewinkt wurden, mussten sich Schwarze offenbar noch einer Sicherheitskontrolle unterziehen. Eine brutale Selektion.
Es ist nicht das erste Mal, dass Algorithmen Schwarze Menschen diskriminieren. So hat Googles Foto-App 2015 einen Afroamerikaner und seine Freundin als „Gorillas“ getaggt. Als wären Menschen Affen. Algorithmen haben nach wie vor Probleme damit, Gesichter von Afroamerikanern zu erkennen – die Fehlerrate ist bis zu zehn Mal höher als bei Weißen, wie zahlreiche Studien belegen. Doch anstatt seine Modelle zu optimieren, hat Google einfach die Kategorien „Gorilla“, „Schimpanse“ und „Affe“ entfernt – und das Problem damit „gelöst“. Die Technik ist noch nicht weit genug, um vorurteilsfrei zu sein, also macht man sie blind. Ein epistemologischer Taschenspielertrick.
Das Problem ist damit freilich nicht gelöst – es ist struktureller Art. Denn Maschinen, die mit rassistisch verzerrten Daten von Menschen trainiert werden, reproduzieren Stereotype. Wenn von Vorurteilen geleitete Polizisten Afroamerikaner in bestimmten Vierteln kontrollieren, schickt eine Predictive-Policing-Software die Einsatzkräfte immer wieder in diese Quartiere und perpetuiert damit das Racial Profiling, weil die Modelle mit verzerrten Daten gefüttert werden. So werden Stereotype durch automatisierte Systeme zementiert. Ein Teufelskreis.
Dekolonialisierung der KI
Der südafrikanische KI-Forscher Shakir Mohamed, der bei der Google-Tochter DeepMind arbeitet, kritisiert, dass in der westlichen Wissenschaftstradition noch immer das koloniale Erbe der Vergangenheit schlummert. In einem aktuellen Aufsatz ruft er daher zu einer „Dekolonialisierung der KI“ auf: Die Modelle sollen vielfältiger werden und auch andere philosophische Traditionen als die des Westens oder Chinas berücksichtigen.
Nun hat man bei solchen Thesen, die von einem Google-Entwickler in die Diskussion gebracht werden, ja zunächst den Verdacht, dass es sich hierbei um eine in Gesellschaftskritik gehüllte Produktwerbung handelt. Nach dem Motto: Wir bei Google arbeiten die Geschichte auf! Trotzdem hat die Diagnose etwas Triftiges. Denn KI ist ja im Kern ein westliches Konstrukt, das auf bestimmten abendländischen Moral- und Wertvorstellungen (wie etwa Individualismus) fußt und auch ein Weltbild mit all seinen Unschärfen transportiert.
Die Organisation Algorithm Watch, die regelmäßig automatisierte Systeme auf den Prüfstand hebt, hat in einem Experiment nachgewiesen, dass der Objekterkennungsalgorithmus von Google Vision Cloud ein Fieberthermometer in einer weißen Hand als Monokular labelt, in einer Schwarzen Hand dagegen als Waffe. Das erratische neuronale Netz hält dem Menschen den Spiegel vor: Denn oftmals sieht man ja zunächst Dinge, die man sehen will. Die Kombination „Schwarz und Waffe“ ist offenbar ein geistiger Kurzschluss, der in KI-Systemen codiert wird.
Wenn man in der Google-Bildersuche nach „Männer“ sucht, erscheinen ausschließlich weiße Männer, was natürlich nicht repräsentativ ist – die Wirklichkeit ist wesentlich bunter und heterogener –, aber letztlich Ausfluss unserer Vorstellungen, die dann wiederum das Bewusstsein bestimmen.
Zählen alle Menschenleben gleich viel?
Zugegeben: Die Kritik ist nicht neu. Schon die Fotohersteller Fuji und Kodak sahen sich mit Vorwürfen konfrontiert, auf ihren Fotos würden die Kontraste von Schwarzen Menschen und People of Color nicht so gut herauskommen wie die von „kaukasischen“ Gesichtern. Angesichts des Siegeszugs der Digitalfotografie und zahlreicher Filtertechnologien mag die Kritik mittlerweile überholt sein. Trotzdem offenbaren sich gerade im Bereich des maschinellen Sehens noch zahlreiche Defizite.
So kam eine Studie des Georgia Institute of Technology im vergangenen Jahr zu dem Ergebnis, dass die Sensoren autonomer Fahrzeuge Fußgänger mit hellerer Hautfarbe besser erkennen als mit dunkleren Hauttönen. Wo die Technik auf der einen Seite genau hinsieht, schaut sie an der entscheidenden Stelle weg. Für die Praxis im Verkehr bedeutet das, dass ein Schwarzer ein größeres Risiko hat, von einem Roboterfahrzeug angefahren zu werden als ein Weißer. Zählen Schwarze Menschenleben für Maschinen gleich viel?
Maschinenethiker behaupten ja gerne, man müsse nur die Trainingsdaten bereinigen, sprich die Algorithmen mit genügend Fotos von Schwarzen „füttern“, dann würden die Modelle valide Ergebnisse produzieren. Doch das Problem ist nicht die Datengrundlage, sondern das Design an sich. Das Mustern, Klassifizieren und Sortieren menschlicher Merkmale ist eine tradierte, anthropometrische Technik, die durch vermeintlich objektive Verfahren wie Gesichts- oder Fingererkennung in neuem Gewand zurückkehrt.
In Indien begann die Kolonialverwaltung in den 1860er Jahren damit, Soldaten mit Fingerabdrücken zu identifizieren, um Betrug bei der Auszahlung von Pensionen zu vermeiden. Wenn man heute sein iPhone per Fingerscan entsperrt, schwingt diese koloniale Praktik noch immer mit – auch wenn man sich vielleicht nicht unterdrückt, sondern überlegen dabei fühlt. Auch die Gesichtserkennung, die ihren Ursprung in der erkennungsdienstlichen Behandlung der Bertillonage hat – der Kriminologe Alphonse Bertillon ließ Ende des 19. Jahrhunderts Körperteile von Kriminellen vermessen –, ist eine im Kern rassistische Registratur.
Biometrische Verfahren kolonisieren den Körper
Noch heute werden diese Technologien vor allem an schwächeren Gruppen der Gesellschaft erprobt. So wurden Flüchtlinge bei ihrer Ankunft in Europa mit Fingerabdrücken registriert, als wären sie Kriminelle. Und in Flüchtlingscamps des UNHCR müssen sich Menschen mit Iris- und Gesichtsscans für Essensrationen authentifizieren. An dem kolonialen Framing dieser Technik würde sich selbst dann nichts ändern, wenn die Fehlerrate bei null läge. Biometrische Verfahren kolonisieren den Körper und machen das Datensubjekt untertan.
Die Medientheoretikerin Ariana Dongus argumentiert, die Camps seien „Versuchslabore für biometrische Datenerfassung“: Neue Technologien würden im globalen Süden getestet, bevor sie in der westlichen Welt als sicher und verkäuflich gelten. Wer argumentiert, man bräuchte bloß eine breitere Datengrundlage, reduziert Rassismus nicht nur auf ein technisches Problem, sondern verkennt auch die zugrundeliegenden Machtstrukturen.
Jacob Levy Moreno, der Ahnherr der sozialen Netzwerkanalyse, die heute von Geheimdiensten und Polizeibehörden verwendet wird, schrieb in seinem Werk „Die Grundlagen der Soziometrie“, dass „Rasse“ ein determinierender Faktor des Gruppenverhaltens von Menschen sei. Die Vertreter der Sozialphysik gehen auch heute noch von der kruden Prämisse aus, dass das „Aggregat“ der Gesellschaft aus sozialen Atomen besteht, die sich wie Moleküle zueinander verhalten – als wäre es ein naturwissenschaftliches Gesetz, dass ein Schwarzer Verbrechen begeht.
Wenn diese Werkzeuge rassistische Ergebnisse produzieren, muss man sich nicht wundern. Vielleicht braucht es in Zukunft nicht nur diversere Entwicklerteams, sondern auch flexiblere Modelle, die der Komplexität der Wirklichkeit Rechnung tragen. Denn am Ende sind es nicht Maschinen, die Menschen stigmatisieren und kriminalisieren, sondern der Mensch selbst.
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