Berliner Landesparlament tagt wieder: Auf in den Kampf
Zurück aus dem Urlaub: Abgeordnetenhaus kann jetzt dank Umbaus trotz Corona vollzählig tagen. Die Sitzung ist der Auftakt zu einem Jahr Wahlkampf.
Dasselbe Parlament, dieselben Menschen. Und doch anders – sehr anders. Wenn an diesem Donnerstag das Abgeordnetenhaus erstmals nach der Sommerpause tagt, so ist das nicht nur die erste tatsächliche Plenarsitzung – also eine Sitzung des kompletten Parlaments mit 160 Abgeordneten – seit dem Frühjahr. Es ist zugleich auch der Auftakt eines Wahlkampfjahres bis zu den Abstimmungen über Abgeordnetenhaus und Bundestag im September 2021. Dass so viel anders ist, hat drei Gründe: ein Umbau des Plenarsaals, ein Sommer ohne Loch – und eine beispiellose Kandidaturkonkurrenz zwischen Chef und enger Mitarbeiterin.
Plenarsitzung kommt vom lateinischen plenus, was voll heißt – und das war es im Landesparlament seit März nicht mehr. Gerade mal die Hälfte der Abgeordneten konnte teilnehmen, mehr war bei coronagemäßen Abständen nicht zu erfüllen. Zwischenzeitlich war sogar ein noch kleineres Notparlament im Gespräch. Nun aber sind die Tischreihen der Fraktionen aufgelöst, es gibt nur noch 160 einzelne Plätze, weit unter die Tribüne und bis zur Rückwand des Saals gezogen. Die Lüftung wirbelt zudem die Luft im Raum nicht mehr um, sondern saugt verbrauchte ab.
Allein auf den Bänken der Landesregierung bleibt es eher leer: Nur die elf Senatsmitglieder sollen teilnehmen, heißt es von der Pressestelle des Parlaments, ihre Staatssekretäre vorwiegend nicht. Was die Abgeordneten und Journalisten auf der Pressetribüne am Donnerstag um das Bild bringt, das das spannendste des Tages wäre: Regierungschef Michael Müller nur ein paar Meter vor Staatssekretärin Sawsan Chebli.
Seiner Staatssekretärin: Müller hat sie Ende 2016 ins Amt und zu sich in die Machtzentrale im Roten Rathaus geholt, zuständig für Bundesangelegenheiten, Internationales und bürgerschaftliches Engagement. Jetzt sind sie zwei Menschen, die in den kommenden Wochen alles daran setzen werden, sich gegenseitig die SPD-Bundestagskandidatur im Wahlkreis Charlottenburg-Wilmersdorf streitig zu machen.
Ein Sommer ohne Sommerloch
Die Kandidaturankündigungen der vergangenen beiden Wochen sind das eine, das die sonst oft lähmend-ereignislosen Parlamentsferien zu einem Sommer ohne Loch gemacht haben. Rücktritte – im Großen wie im Kleinen – waren das andere. Als sich das Parlament am Abend des 4. Juni in die Ferien verabschiedete, nachdem es noch schnell einen coronabedingt mit sechs Milliarden neuen Schulden belasteten Haushalt beschlossen hatte, stand an der Spitze der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung noch Katrin Lompscher. Ihre Linkspartei führt das Ressort auch weiterhin, als neuer Senator aber soll zu Sitzungsbeginn Sebastian Scheel vereidigt werden, bisher Staatssekretär.
Lompscher war zurückgetreten, nachdem bekannt wurde, dass sie nicht nur der Landeskasse Aufsichtsratsbezüge schuldig geblieben war, sondern diese Gelder teils auch nicht versteuert hatte. Angesichts dieses ersten Wechsels im Senat nach über dreieinhalb Jahren rot-rot-grüner Koalition fiel es fast nicht auf, dass bei der AfD-Fraktion wenige Tage später deren auffälligste Politikerin als Vize-Fraktionschefin zurücktrat.
Wenn es nach Müller geht, dann sitzen die Abgeordneten an diesem Donnerstag einem künftigen Bundesminister gegenüber: Per Bild-Zeitung hat Müller jüngst mitgeteilt, dass er nicht nur Bundestagsabgeordneter werden will, sondern auch gerne das Bau- oder das Wissenschaftsministerium übernehmen möchte. Womit er dabei einfach mal unterstellt, dass seine derzeit auf Bundesebene noch mehr als in Berlin schwächelnde SPD nach dem Herbst 2021 weiter mitregiert. Müller wäre das erste Berliner SPD-Mitglied im Kabinett seit Christine Bergmann, die dort von 1998 bis 2002 für Familien, Senioren, Frauen und Jugend zuständig war – unvergesslich geworden durch die Wortwahl „Familie und Gedöns“ des damaligen Kanzlers Gerhard Schröder.
Historisch gesehen stehen Müllers Chancen auf den Wechsel in den Bundestag gut: Auch drei andere Berliner SPD-Regierungschefs konnten in den Bundestag wechseln beziehungsweise zurückkehren: Willy Brandt 1969 sowie Dietrich Stobbe und Hans-Jochen Vogel 1983. Bei der CDU hingegen scheiterte der jüngste Versuch schmählich: Eberhard Diepgen, 15 Jahre Regierender Bürgermeister, hatte trotz Bankenskandal und katastrophalem CDU-Absturz bei der Abgeordnetenhauswahl 2001 für die Bundestagswahl im folgenden Jahr die Spitzenkandidatur für sich beansprucht, fiel aber beim Parteitag durch.
Eine Art Cohabitation
Der Wettstreit Müller – Chebli wird die Abgeordneten allerdings nicht das ganze nächste Jahr begleiten: Die umstrittene SPD-Kandidatur könnte sich bereits bei einem Kreisparteitag Ende September klären, endgültig bei der offiziellen Kandidatenwahl im November. Bis dahin müssen die beiden Kontrahenten unter einem Dach klarkommen – dem des Roten Rathauses. In Frankreich hat man einen Begriff aus dem Eherecht auf eine solche politische Situation übertragen und nennt das wohlklingend Cohabitation. In Berlin dürfte die Opposition dafür am Donnerstag Begriffe finden, die sich weit weniger elegant anhören.
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