Kino in der Provinz: Der Hollfeld-Effekt
In Hollfeld in der Fränkischen Schweiz steht Bayerns kleinstes Programmkino. In der Corona-Pandemie kämpft es mit Pocorn am Fenster ums Überleben.
„Hierher zu ziehen“, sagt Winfried Hartl, „war der beste Entschluss meines Lebens.“ Andere würden wohl sagen, er sei in ein Niemandsland gezogen: nach Hollfeld, mitten in die Fränkische Schweiz. Maximal weit entfernt von den größeren Städten Nürnberg, Bamberg und Bayreuth. In der Fränkischen Schweiz gibt es schöne Felsen und rustikale Gasthäuser, enge Täler und saftige Wiesen – ein romantischer Märchentraum. Aber hier leben?
Das doch lieber nicht, wenn jedes Konzert, jedes Theater, jede Tanzveranstaltung, jedes Kino eine Autostunde entfernt ist. Halt. „Jedes Kino“ stimmt nicht. In Hollfeld steht Bayerns kleinstes Programmkino. Und weil Winfried Hartl, 72 Jahre alt, ehemaliger Physiker im Dienst von Siemens Erlangen, nur fünfzig Meter vom Kino entfernt lebt, ist er heute der Vorsitzende des Vereins Kintopp-Freunde Hollfeld. Ohne den gäbe es das Lichtspielhaus nicht mehr. Hartl ist der Krisenmanager des Kinos.
Rund 5.000 Menschen leben im Gemeindegebiet der Stadt Hollfeld. Das Kino liegt leicht erhöht und ist dank großzügiger Ausschilderung leicht zu finden. Die rostrote Fassade ist von wildem Wein bewachsen, der schon seine Finger in Richtung des Schilds mit dem nostalgischen Schriftzug ausstreckt.
Bei einem Landkino aus den 1950er Jahren ist natürlich vor allem eins wichtig: Man muss ihm das Alter ansehen, auch notwendige Modernisierungen dürfen es nicht übertünchen. Das Foyer besteht schon mal den Test. Orangefarbene Tapete mit weißer Bemusterung: check, milchige Tütenlampen: jawoll, ein Zigarettenautomat in Projektorform, auch das. An der Tür hängen Schilder mit Durchhalteparolen. „Wir kommen wieder, weil wir das erhalten werden, was so mühsam aufgebaut wurde“, steht auf einem.
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Winfried Hartl deutet auf ein altes Schild, für das noch kein Platz gefunden wurde. „Unser neuester Kellerfund“, sagt er und präsentiert die Aufschrift: „Während der Filmveranstaltung Rauchen polizeilich verboten“. Der Saal selbst – es gibt nur einen – ist großzügig. 170 Plätze. Auch hier: Tütenlampen aus der Zeit, grüne Wandbespannung, auch noch original. Hinten grün gepolsterte Stühle, vorne rote, 2016 übernommen von der Bayreuther Stadthalle. Zwei hat sich Kinofan Hartl ins private Wohnzimmer gestellt.
Nun deutet Hartl nach vorn in Richtung Leinwand: „Früher gab es da noch eine Rinne. Nach der Vorstellung wurde der Saal dann einfach sauber gespritzt.“ Draußen, vor dem wintergarten-ähnlichen Anbau, der als Bistro dient, kann man sich auf Abstand unterhalten. Mitte März musste das Kino schließen.
Ruth Dormann, 56, Geschäftsführerin, eine von zwei hauptberuflichen Kräften, sagt: „Am Anfang dachte ich noch, das dauert jetzt vielleicht eine Woche, dann machen wir wieder auf. Ich bin ja Optimistin.“ Als dann klar wurde, dass Corona nicht so schnell wieder verschwinden und dass Kultur auf unabsehbare Zeit nicht stattfinden würde, kam die Angst.
Im März, dem Monat, in dem die Pandemie in Deutschland spürbar wurde, wären eigentlich Schulkinowochen gewesen. Fürs Kintopp Hollfeld bedeutete das: Mit Beginn des Lockdowns hatte man Unmengen an Popcorn und drei verschiedene Landbiere in Fässern vorrätig. So begann der Straßenverkauf aus dem Fenster. Die Nachbarn kamen mit großen Krügen. „Das wurde von Anfang an so gut angenommen, dass wir es beibehalten haben“, sagt Dormann.
Manche Kund*innen kämen jeden Samstag mit dem Auto aus Bamberg, um sich zwei überbackene Kino-Baguettes abzuholen. „Die Leute hängen an dem Kino. Wenn ich das sehe, denke ich: wir kommen durch die Krise.“
Elf Minijobber*innen musste das Kino wegen Corona entlassen, die beiden Hauptamtlichen sind in Kurzarbeit. 5.000 Euro Soforthilfe gab’s vom Freistaat. Aber: „Wenn das bis Oktober dauert, müssen wir schreien und um Spenden betteln“, sagt Hartl. Ohne die Mitgliedsbeiträge – gestaffelt von 15 bis 300 Euro pro Jahr von den insgesamt 260 Mitgliedern – sowie Kulturförderung fürs wertvolle Programm und die Sponsoren ginge es nicht. Selbst, wenn Corona nicht wäre.
Nach den jüngsten Lockerungen in Bayern konnte das Kintopp Hollfeld zuerst den Biergarten wieder in Betrieb nehmen. Seit dem 3. Juli laufen auch wieder Filme. Zehn Gruppen dürfen jetzt pro Vorstellung in den Saal, wobei eine „Gruppe“ eine Person oder ein Haushalt sein kann. „Für einen Anfang reicht’s“, sagt Hartl.
Die Botschaft, die das Team von Anfang an kommuniziert hat, ist klar: Das Kino hat seit Gründung 1957 so viel überstanden und überlebt, wir überleben auch das. Tatsächlich hielten die Stadtlichtspiele, so hieß das Kino zunächst, bis 1978 durch. Dann fiel es dem Kinosterben der Zeit zum Opfer.
Die Retterin kam 1983: Die ZDF-Journalistin Ursula Scheicher. Sie habe, so Hartl, für einen Beitrag über die Arbeiterinnen, die von hier zum Versandhandel Quelle nach Fürth gefahren wurden, recherchiert – um dann das stark sanierungsbedürftige Kino zu kaufen und sich damit einen Kindheitstraum zu erfüllen.
Scheicher, die heute in einem Pflegeheim lebt, betrieb das Kintopp bis 2011. „Es hat immer Geld gefressen“, sagt Hartl. „Ursula hat nie einen Pfennig daran verdient.“ 2011 von den Nordbayerischen Nachrichten gefragt, wie viel Geld sie in das Kino gesteckt habe, sagte Scheicher: „Es war jedenfalls viel, aber das ist nicht interessant. Ich hab’s mit Freude reingesteckt.“
Als Scheicher sich 2011 zurückzog, sprang Ralf Söhnlein, Sanitärunternehmer, in die Bresche. Er ist dem Kino bis heute als Sponsor verbunden. 2013, als absehbar wurde, dass Söhnlein das Hollfeld nicht alleine tragen konnte, gründete sich, klassisch am Stammtisch, der Verein der Kinofreunde.
Noch im selben Jahr musste die Technik erneuert werden. Für die alten Projektoren aus den 1950er Jahren waren nicht mehr ausreichend Filmkopien im Umlauf. „Also haben wir im Herbst 2013 mal eben 80.000 Euro eingesammelt“, erinnert sich Hartl. Und seit Corona steigt auch die Zahl der Mitgliedsanträge wieder.
Die erste Amtshandlung von Ursula Scheicher 1978 war ein Umbau. Sie schenkte dem Kintopp seine Bühne. Bis heute finden hier nicht nur Filme statt, sondern auch Konzerte und Kabarett, was das Kino als Kulturort doppelt wichtig macht. Künstler*innen, die man zum ersten Mal anfrage, seien zuerst natürlich skeptisch. Dormann: „Aber wer hier war, kommt sowieso wieder.“
Durchhaltevermögen gefragt
Nur das Publikum ist nicht das einfachste. Hartl nennt das den „Hollfeld-Effekt“. Wenn ein Künstler zum ersten Mal hier spiele, kämen vielleicht nur 20 Leute. Im nächsten Jahr kämen schon 40 und im übernächsten 80. Dormann: „Das ist einfach die Landmentalität.“
Es dauert eben etwas länger, bis sich etwas durchsetzt. Der Franke und die Fränkin gelten ohnehin als zurückhaltend, skeptisch. Wer mitten in der Fränkischen Schweiz von einer Idee überzeugt ist, muss Durchhaltevermögen mitbringen.
2018 traten die Verantwortlichen der gemeinnützigen GmbH „Altern gestalten“ an den Kintopp-Verein heran, um ihn für das Konzept Silberfilm zu gewinnen: Kinoabende für Menschen plus minus 100 Jahre alt, Filme mit langsamen Abläufen und Happy End, aber ohne Explosionen, gern auch mal ein Klassiker. „Wir hatten große Mühe, die Heime in der Umgebung dazu zu bringen, da dabei zu sein“, erinnert sich Hartl.
Mittlerweile sind die Silberfilm-Abende in Hollfeld fest etabliert und fast so etwas wie ein gesellschaftliches Ereignis, zu dem die Seniorinnen und Senioren des Ortes die Sonntagsgarderobe aus dem Schrank holen. Der letzte Silberfilm vor Corona war „Die Frau meiner Träume“, ein Ufa-Musical aus dem Jahr 1944 („buntes Spektakel aus düsterer Zeit“, Cinema). „Die Vorstellung war rappelvoll, da hätten Sie niemanden mehr reingekriegt. Lauter strahlende Senioren“, sagt Ruth Dormann.
Natürlich weiß sie wie ihr Kollege Hartl, dass ihr Kino etwas Besonderes ist. Das einzige seiner Art, weit und breit. Und wenn die Kinder und Senior*innen strahlen, wenn die Musiker*innen sich über einen schönen Abend freuen, wissen sie, warum sie das alles auf sich nehmen: die Bürokratie, den Kampf um die Fördertöpfe, die Angst vor anstehenden Reparaturen. „Das Herz hängt dran“, sagt Ruth Dormann. „Meine beiden Kinder sind hier groß geworden. Ohne Kino, das könnte ich mir gar nicht vorstellen.“
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