Algeriens Geschichte wirkt weiter: Die Kinder von Bab el-Oued
Mit der Kraftprobe zwischen Staatsmacht und Islamisten im Sommer 1991 begann in Algerien der Krieg, der die Sahelregion bis heute erschüttert.
E s war ein heißer, schwerer Sommer, in den Straßen mischte sich salzige Mittelmeerluft mit dem süßlichen Gestank verrottender Müllhaufen. Bab el-Oued, der aufrührerische Arbeitervorort von Algier, war damals im Juni 1991 noch kein Bürgerkriegsgebiet. Algeriens „Islamische Heilsfront“ (FIS) regierte seit ihrem Sieg bei Algeriens ersten freien Kommunalwahlen 1990 die Gemeinde, in der sie gegründet worden war, als das Regime der Exbefreiungsbewegung FLN (Nationale Befreiungsfront) nach der blutigen Niederschlagung von Sozialprotesten 1988 das Einparteiensystem hatte aufgeben müssen.
FLN-Regierung und FIS-Kommunen standen sich feindlich gegenüber, alte gegen neue Zeit. Die Regierung drehte den Kommunen den Geldhahn zu. Die reagierten mit Generalstreik. Die Regierung erklärte den Ausnahmezustand, setzte die für den 27. Juni 1991 vorgesehenen Parlamentswahlen aus und ließ islamische Inschriften an Rathäusern entfernen. Es folgten blutige Unruhen. Ein Vorbote.
In Bab el-Oued lebten auf anderthalb Quadratkilometern 200.000 Menschen. Arbeit gab es kaum. In Altbauwohnungen französischen Stils stapelte sich eine Familie pro Zimmer. Die Jugendlichen vertrieben die Zeit auf der Straße und am Strand. Als der Ausnahmezustand kam, durften sie das nicht mehr. Gegen die Armee wehrten sie sich mit Steinen. Die FIS erklärte sich zu ihrem Beschützer. Der Staat erklärte sie zu Terroristen. So entfaltete sich vor 29 Jahren die Bürgerkriegskonstellation, die Algerien im folgenden Jahrzehnt Hunderttausende Tote kosten sollte.
Algiers wütende Jugendliche von 1991 unterschieden sich nicht von wütenden Jugendlichen heute. Wandel lag in der Luft. Islamistischen Terrorismus gab es noch nicht, Verschleierung war die Ausnahme. Die Regierungspartei schwadronierte von Entwicklung und machte das Gegenteil. Die Islamisten schwadronierten vom Paradies, und das nahm man genauso wenig ernst. Als Europäer konnte man sich noch problemlos bewegen. Der Sommer 1991, so explosiv er war, war Algeriens letzter Friedenssommer.
FIS-Türsteher Mourad vom Rathaus von Bab el-Oued erklärte diesem Autor damals geduldig seine Spinnereien: Die ersten Menschen der Erde seien 31 Meter große Riesen gewesen. Auf der Erde lebten eine Milliarde Juden, die man alle umbringen werde. Die FIS werde Algeriens Wahlen gewinnen, sonst gebe es „totalen Krieg“.
Drohende Barbarei
Der letzte dieser Sätze war keine Spinnerei. Aber wer konnte das ahnen? In ihren lauschigen Villen mit Blick auf die Kasbah beklagte zum gleichen Zeitpunkt die intellektuelle Elite bei Whisky und Oliven die Einfalt der Regierenden und die drohende Barbarei. Eine gemeinsame Sprache mit der Jugend suchte sie nicht. Das Unheil nahm seinen Lauf. Der erste Wahlgang der Parlamentswahl fand im Dezember statt, die FIS gewann. Kurz vor dem zweiten Wahlgang putschte im Januar 1992 die Armee. Die antikolonialen Befreier wollten „ihr“ Algerien nicht ihren ungezogenen Kindern überlassen.
Die FIS ging in den Untergrund. Sie wollte die wütende Jugend mitnehmen und von unten ihr neues Algerien gründen. Es dauerte, bevor sich daraus der „totale Krieg“ entwickelte. Aber jede Familie der Vorstädte wurde zerrissen. Man musste sich entscheiden: für die Armee oder für den Untergrund. Eine Perspektive bot keiner, nur Erpressung. Auf beiden Seiten kehrten viele Jugendlichen nie zurück. Algerien hat sich von diesen dunklen Jahren nie erholt.
Für manche Beteiligten ist dieser Krieg nicht zu Ende. Am 3. Juni 2020 starb der letzte noch aktive islamistische Kriegsführer jener ersten FIS-Generation. Abdelmalek Droukdel, Chef der „Al-Qaida im Islamischen Maghreb“ (AQMI), fiel in Mali einem französischen Angriff zum Opfer.
Droukdel war im Sommer 1991 einer der wütenden Jugendlichen, ein 21-jähriger Mathematikstudent aus Meftah am Fuße der Berge auf der stadtfernen Seite des Flughafens von Algier. Man sieht von dort die Flugzeuge in den Himmel über dem Meer aufsteigen, zu Reisen, die für Algiers Jugend mangels Visa unerreichbar sind. Der junge Droukdel schloss sich 1994 dem bewaffneten Kampf an. Zehn Jahre später wurde er „Emir“ der „Salafistischen Gruppe für Predigt und Kampf“ (GSPC), die er 2007 zum Maghreb-Arm von al-Qaida erklärte.
Diese Internationalisierung war logisch. Der Krieg in Algerien war verloren, die Islamisten hatten aber in Europa noch Unterstützernetzwerke in der Diaspora, und sie flüchteten über Algeriens Grenzen tief nach Afrika hinein. 2012 übernahm AQMI kurzzeitig die Macht im Norden Malis. Seit 2013 kämpft dort Frankreichs Armee, inzwischen hat der Krieg auch andere Länder erreicht. Westafrikas Sahelregion ist heute Kriegszone.
Aus der Machtprobe in Algerien hat sich ein grenzenloser Dreißigjähriger Krieg entwickelt. Die Nachfolger der FIS haben Algerien aufgeben müssen, aber nun bekämpfen sie den Westen auf zwei Kontinenten. Lokale Armeen sind überfordert, Antiterrormilizen wüten genauso brutal wie einst in Algerien, wo für die staatstreuen Milizen im „totalen Krieg“ der Begriff „Ausradierer“ (éradicateurs) geprägt wurde.
Areligiös und modern
Ausradiert wurde in Algerien der systemsprengende Islamismus, nicht aber die Hoffnung auf ein besseres Leben, aus der die FIS überhaupt erst entstanden war. Eine neue Jugendprotestbewegung hat 2019 den letzten Präsidenten der antikolonialen Generation zu Fall gebracht und macht weiter. Sie ist areligiös und modern, während das System das alte geblieben ist.
Den Krieg in Algerien gewannen die Generäle, nicht aber den Frieden. Sie versprachen dem eigenen Volk immer: Lasst uns in Ruhe, im Gegenzug bekommt ihr Ölgeld ab. Irgendwann sagte das Volk Nein. In den viel ärmeren Sahelstaaten funktioniert nicht einmal das. Weder gewinnt das Militär den Krieg, noch hat die Regierungselite etwas zu verteilen. Die Zeichen stehen auf Sturm.
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