: Sünden der Vergangenheit
Seit Jahrzehnten schlummert in Hamburgs Osten eine Giftfahne im Boden. Nun tritt sie ins Oberflächenwasser und verseucht die Fische. Während den Angler*innen ein maßvoller Konsum geraten wird, arbeitet die verursachende Firma an der Sanierung – wohl noch die nächsten 20 Jahre
Von André Zuschlag
Uwe Eggerstedt steht jetzt am Wasser. Die Wade zwickt ein wenig und das ewige Hinsetzen und Aufstehen ist auf Dauer zu anstrengend. Links neben ihm ragt die Angel über den Fleet, fein säuberlich daneben ist der Käscher aufgestellt und die Tasche mit Ködern, Schnüren und anderem Werkzeug. Er schaut aufs Wasser und schweigt einen kurzen Moment. Eine junge Blesshuhnfamilie schwimmt einige Meter entfernt entlang der Teichrosen. Er lächelt kurz, als er sie entdeckt, und schaut dann wieder ernst. „Es ist schon schlimm, dass man mittlerweile als Fremder bei vielen Gewässern fragen muss, ob man den Fisch auch essen kann“, sagt er.
Denn genauso ist es nun auch mit dem Fleet vor ihm, der sich einige Hundert Meter zwischen drei- und vierstöckigen verklinkerten Mietshäusern in beide Richtungen zieht.
Es ist eine insgesamt knapp 20 Kilometer lange Wasserfläche, das Neuallermöher Fleetsystem. Die Fleete entstanden hier in den 1980ern, als der Stadtteil im Hamburger Bezirk Bergedorf aus dem Boden gestampft wurde. Sie dienen in erster Linie als Entwässerungskanäle. Zugleich sind sie auch eine Art Naherholungsgebiet für die Anwohner*innen. Beim Stadtteilentwicklungsbüro des Bezirks wirbt man mit diesem besonderen Charme: „Viele Neuallermöher können auf den Fleeten direkt von ihrem Grundstück aus Paddeln, Angeln und Schlittschuhlaufen“, heißt es auf deren Website. Mit einem der drei Angebote, dem Angeln, ist das von nun an und für die nächsten rund 20 Jahre aber so eine Sache: In den Karpfen, Schleien, Zandern oder Barschen, die Eggerstedt hier gern angelt, wurde vor Kurzem Vinylchlorid nachgewiesen.
Eggerstedt wickelt jetzt Schnur an einer zweiten Angel auf. Er macht das seit 50 Jahren, mal hier an den Fleeten, mal an der Dove Elbe oder anderswo. „Just for fun“, wie er sagt, und auch nicht wöchentlich. Als er die Nachricht hörte, dass es hier nun vergiftete Fische gibt, hat er mit den anderen Mitgliedern seines Anglervereins gesprochen. „Mein Vorsitzender hat mir gesagt: ‚Das bisschen, was du fängst, kannst du essen‘“, sagt er lachend. Vinylchlorid ist in der Chemikaliengesetzgebung als krebserregend eingestuft. Die Umweltbehörde sagt, dass für Nutzer*innen oder Anwohner*innen der Fleete keine Gefahr bestehe. Beim Verzehr der Fische sollte man aber aufpassen: Erwachsene sollten pro Jahr nicht mehr als acht Portionen à 200 Gramm des Fisches aus diesen Fleeten essen. Vinylchlorid setze sich vor allem in der Leber ab.
Eggerstedts Vorsitzender ist Werner Kleint. Der kommt jetzt seinen Freund Eggerstedt am Wasser besuchen. Wie ein „altes Ehepaar“ seien die beiden, sagt Eggerstedt. Beide sind schon seit den 1980ern im Angelverein Bergedorf-West/Allermöhe und geben zusammen Fischereikurse. Rund 370 Mitglieder sind es, die in den Allermöher Fleeten angeln.
Für Werner Kleint bedeutet das Vinylchlorid vor allem eine Menge Arbeit. Denn noch ist nicht viel bekannt über die Verbreitung des Gifts. Er möchte gern untersuchen lassen, wie weit das Gift in die Fleete reicht. Von der Behörde heißt es, es sei nur in einem kleinen Bereich im nördlichen Teil. Eine weitere Untersuchung würde rund 10.000 Euro kosten. „Ich hoffe, die Hauni übernimmt noch einmal die Kosten dafür“, sagt Klein.
Hauni, Akronym für „Hanseatische Universelle“, ist ein Maschinenbauunternehmen im angrenzenden Bergedorf. Es wurde 1946 von Kurt Körber gegründet und stellt Maschinen für die Zigarettenfertigung her. Mittlerweile ist die Hauni eine Sparte der Körber AG, diese hat noch andere Geschäftsfelder und bei rund 10.000 Angestellten einen Jahresumsatz von 2,5 Milliarden Euro.
Bekannt wurde Kurt Körber, der wegen seinen Verstrickungen in der NS-Zeit umstritten ist, durch die Gründung der Körber-Stiftung. Sie gehört mit einem Budget von rund 20 Millionen Euro jährlich zu den bundesweit größeren Stiftungen.
Die Hauni ist es, die für die Vergiftung verantwortlich ist. Ihr Werksgelände ist vom Fleet, an dem Uwe Eggerstedt neben seinen Angeln steht, 1,69 Kilometer Luftlinie entfernt.
Dort sitzt anderntags Norbert Scheele in einem kleinen Verwaltungsgebäude. Es ist umgeben von vielen großen Produktionshallen auf dem mehrere Hektar großen Werksgelände. Die meisten Hallen und Bürogebäude sind schön saniert und versprühen Industriecharme. Auf dem Weg, der Verwaltungsgebäude und Produktionshallen trennt, gehen Männer mit hellgrauer Arbeitsbekleidung umher.
Auf dem langen Tisch vor Scheele steht sein Laptop, er öffnet eine Powerpoint-Präsentation, die auf dem großen Bildschirm an der Wand angezeigt wird. Darauf: eine Karte des Werksgeländes mit einzelnen versprengten Punkten. „Hier kam es damals zum Austritt des Perchlorethylen“, sagt Scheele und zeigt auf die einzelnen violetten Punkte.
In der Metallbearbeitung wurde seit den 1950er-Jahren Perchlorethylen als Entfettungsmittel eingesetzt. Metallteile wurden vor und nach der Bearbeitung damit gefettet, damit sie nicht rosten. „Wenn Metallteile aus einem Entfettungsbad entnommen wurden, sind Reste auf den Fußboden getropft und gelangten durch den Beton in den Untergrund“, sagt Scheele.
Uwe Eggerstedt, Angler
Jahrzehntelang ging das so, bis in die 1980er-Jahre. Tropfen für Tropfen. Daraus entwickelte sich im Erdreich eine Schadstofffahne. Wie ein dicker Wurm bewegt sie sich mit dem Gefälle des Werksgeländes im Norden unter der S-Bahn-Linie nach Südwesten Richtung Neuallermöhe.
Scheele hat noch einen Zettel dabei. Darauf steht, in chemischer Zeichensprache, der Abbauprozess von Perchlorethylen. Durch ihn wurde aus dem Perchlorethylen im Laufe der Zeit Vinylchlorid. Und während dieses Vinylchlorid jahrzehntelang isoliert im Erdreich schlummerte, hat es nun Kontakt mit dem Oberflächenwasser der Fleete aufgenommen. Würde man das Oberflächenwasser mit Sauerstoff anreichen, würde sich das Vinylchlorid abbauen. „Das ist aber keine Option“, sagt Scheele. Allein schon rechtlich ist das nicht zulässig.
Scheele öffnet die nächste Folie. Mit der Maus umkreist er die rote Fläche auf dem Bildschirm. „Die dortigen Werte sind mehr als wir erwartet hatten“, sagt er. Die rote Fläche, hinterlegt mit einer Karte von Bergedorf, ist der Bereich in Neuallermöhe, in der die Hauptkonzentration der Schadstofffahne ist.
Er klickt auf die Maus, wieder dieselbe Karte, aber diesmal ohne eine rot eingezeichnete Fläche, nur noch eine grüne Fläche – also eine geringe Konzentration – ist zu sehen. „So ist die Prognose für das Jahr 2030“, sagt Scheele.
Scheele ist bei Hauni für Arbeitssicherheit zuständig und seit drei Jahren auch für die Sanierung der Fahne. Er ist gelernter Geochemiker und sagt, dass er sich schon zuvor mit dem Thema beschäftigt hat – „aus Interesse“. Als sein Vorgänger in Ruhestand ging, war es naheliegend, dass er die Aufgabe übernehmen würde.
Erste Hinweise auf Verunreinigungen des Grundwassers um das Hauni-Gelände gab es im Jahr 1991 im Zuge der Erkundung eines ehemaligen Gaswerks. Doch war zu diesem Zeitpunkt die Herkunft des Gifts unklar. Erst durch weitere Untersuchungen der Umweltbehörde und eine historische Recherche konnte herausgefunden werden, dass das das Gift auf dem Hauni-Gelände in den Boden gelangte. Das war im Jahr 1996. Es dauerte noch einmal zwei Jahre, ehe die Sanierungsarbeiten eingeleitet wurden.
Abgeschlossen ist die Sanierung endgültig wohl erst in rund 20 Jahren. Die Umweltbehörde beantwortet die Frage, warum es so lange dauert, mit der Auskunft: „Es gibt leider keine schnelle Methode, die Gewässerverunreinigung kurzfristig zu reduzieren.“
Aber hätte nicht wenigstens der Eintritt in das Oberflächenwasser verhindert werden können? Man wisse halt nicht, heißt es wiederum von der Behörde, wohin eine Schadstofffahne im Erdreich wandere. Dann hätte man Dutzende Brunnen zur Sanierung graben müssen. Das sei demnach sehr umständlich und teuer. Außerdem seien bereits 75 Prozent des ursprünglichen Schadens saniert. Es scheint: Die Behörde ist froh, dass überhaupt saniert wird.
Werner Kleint weiß, warum das so ist: „Wir haben hier nicht nur unter Hauni zu leiden“, sagt er, während er neben Eggerstedt am Wasser steht und sein Blick vom Fleet Richtung Osten wandert, wo hinter den Wohnsiedlungen von Neuallermöhe das Industriegebiet von Bergedorf liegt. Noch zehn weitere Giftfahnen stecken dort in der Erde. Auch sie stammen von Industriebetrieben. Die von Hauni ist die mit Abstand größte.
Der Vorteil an Haunis Giftfahne: Der Verursacher existiert noch. Andere Verschmutzungen stammen von Unternehmen, die es seit Jahrzehnten nicht mehr gibt. Sie können nicht mehr in Verantwortung genommen werden. So stammt die von der Intensität her stärkste Verunreinigung unter Bergedorf von einer chemischen Reinigungsfirma, die bis 1970 existierte. Weil die Erben der Firma nicht aufzufinden waren, muss die Stadt die gesamten Kosten der Sanierung tragen.
Angesprochen auf die Kosten, überschlägt Norbert Scheele die Zahlen für einen Moment im Kopf. „Allein das Monitoring kostet rund 100.000 Euro pro Jahr“, sagt er. Insgesamt, schätzt er, dürfte Hauni bisher einen mittleren einstelligen Millionenbetrag für die Sanierung ausgegeben haben.
Während Werner Kleint noch einmal den Fleet in südlicher Richtung entlang blickt, sagt er: „Es wäre schlimm, wenn alles belastet ist.“ Das weiß man jedoch nicht, auch wenn die Behörde das für unwahrscheinlich hält. Kleint möchte unbedingt, dass noch an anderer Stelle Proben genommen werden. Die Fleete sind mittlerweile sein Lebensprojekt. Er angelt, im Unterschied zu seinem Kumpel Eggerstedt, eher selten. Stattdessen sorgt er sich um den Bestand. Zwei bis drei Mal pro Jahr reinigen sie die Gewässerflächen. Auch den auf der Roten Liste stehenden Bitterling haben die Angler wieder angesiedelt. „Das war nicht einfach, denn die ernähren sich von Muscheln“, sagt Kleint. Also kümmerten sich die Angler auch um die Pflege der Muscheln.
Er hofft, dass die Hauni das Geld dafür locker macht. Nicht, weil er bei ihr eine besondere Schuld sieht. „Wir wissen doch alle, wie man früher mit der Umwelt umgegangen ist“, sagt Kleint. Er ist in Dannenberg aufgewachsen. „Da hat der Bauer eine große Grube gegraben, alle haben ihre Abfälle reingeworfen und dann wurde das zugeschüttet.“ Es habe damals halt kein Bewusstsein für die Umwelt gegeben. Aber irgendwer muss ja für die Sünden der Vergangenheit zahlen.
Wenn er einen Fisch fange, dann trinke er nun beim Essen ein Bier dazu, sagt Eggerstedt. Und in seinem Alter sei das ja fast eh alles egal, meint er mit einem verschmitzten Lachen. Noch hat heute keine Brasse und kein Hecht angebissen, aber er versucht, die Sache eben mit Humor zu nehmen. „Eigentlich ist das ja eine wirklich traurige Geschichte, denn Fisch ist schließlich ein Grundnahrungsmittel – das sollte so nicht sein“, sagt er und setzt sich nun doch erst mal wieder hin.
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