Verbandschef über Kino in Coronakrise: „Geringere Filmvielfalt“
In Coronazeiten sei Streaming für die Filmbranche keine Lösung, sagt der Chef des Verbands AG Kino. Viele seien „erschlagen“ vom Online-Angebot.
taz: Herr Bräuer, die 1.734 Kinos Deutschlands sind derzeit fast alle wegen der Coronakrise geschlossen. Gibt es schon etwas Neues zur Wiedereröffnung?
Christian Bräuer: Ich gehe davon aus, dass spätestens Anfang Juli in allen Bundesländern Filme spielen werden. Für Berlin glaube ich, dass die Freiluftkinos spätestens zum 6. Juni freigegeben werden, die anderen etwas später. Die Kinos haben übrigens nie darauf gedrängt, sofort zu öffnen – für sie ist vor allem Planbarkeit wichtig, ähnlich wie bei den Theatern. Kino ist ein Business, das von neuen Filmen angetrieben wird – und man muss einen neuen Film angemessen herausbringen und bewerben, das dauert sechs bis acht Wochen. Wir als Arthousemarkt planen jedenfalls für Juli.
Wie hängt das von der internationalen Kinobranche ab?
Wir brauchen natürlich internationale Filme – und momentan ist noch ein großes Rätselraten, wie sich die Infektionszahlen zum Beispiel in den USA oder Großbritannien entwickeln. Wenn die Situation dort so schlimm bleibt, sehe ich nicht, dass Mitte Juli „Tenet“, der neue Film von Christopher Nolan, herauskommt. Man kann also nicht wirklich planen, weil man eben nicht nur den deutschen Markt in den Blick nehmen kann. Wann Nolan oder Disneys „Mulan“ startet, das wird in Los Angeles entschieden. Und wenn der dort nicht startet, kann er hier auch nicht laufen. Die großen deutschen Starts, „Undine“ zum Beispiel, haben wir in Zusammenarbeit mit den Verleihern jetzt für den 2. Juli geplant, Mitte Juli käme dann der Nolan-Film, und Ende Juli „Berlin Alexanderplatz“, damit hätten wir sehr gute Neustarts und ein attraktives Programm.
Wieso sind die Kinoöffnungen überhaupt Ländersache?
Das war immer Ländersache, obwohl das natürlich bei Filmen eigentlich sinnlos ist – anders als Theaterstücke laufen Filme ja immer deutschlandweit an. Und eigentlich hatten sich die Länder auch geeinigt, einen gemeinsamen Beschluss zu fassen, aber Armin Laschet ist vorgeprescht und hat einen Eröffnungstermin für Nordrhein-Westfalen verkündet. Danach haben das ein paar weitere Bundesländer ebenfalls gemacht, was in der Branche nicht gut aufgenommen wurde. Die Milch ist sozusagen jetzt vergossen – keiner nimmt einen Termin wieder zurück. Allerdings bleiben in den meisten Bundesländern die Kinos ohnehin noch zu – es sind ja gar keine Filme da, und die Auflagen müssen erst einmal alle umgesetzt werden.
Welche Sicherheitsauflagen gelten momentan für Kinos?
Sehr unterschiedliche – in Hessen müssen alle Zuschauer*innen zum Beispiel jederzeit einen Abstand von 1,50 Meter zueinander haben. Das würde aber bedeuten, dass man bei der Vorstellung nicht auf die Toilette gehen kann. Man käme damit nur auf eine minimale Auslastung. So können die Kinos aber nicht wirtschaften, darum und weil Filme fehlen, wollen viele Kinos lieber noch abwarten. Außerdem muss der Abstand im Kino nach vorn und hinten vielleicht gar nicht so groß sein – man spricht ja nicht oder nur leise mit den Sitznachbar*innen neben einem. Bei einer Schachbrettanordnung, also die Leute auf Lücke zu setzen, hätte man immerhin eine Auslastung von 50 Prozent. Zudem lebt Kino von Wintermonaten und starken Wochenenden, die schwächere Nachmittage finanzieren, das wird sich nicht ändern. Also natürlich ist nicht jede Vorführung voll, aber eine 50-prozentige Nutzung wäre auf jeden Fall viel besser.
Gehören Masken im Kino dazu?
Die Bundesregierung hat jetzt Eckpunkte genannt, da ist das Tragen der Maske nicht Pflicht, aber es wird empfohlen. Noch gibt es aber kein endgültig abgestimmtes Hygienekonzept für Kinos.
Es wäre herrlich, wenn durch die Masken das Chipstütengeraschel und -gekaue während der Vorstellung aufhörte.
Manche mögen sich darauf freuen, für die Kinos sind Verzehrerlöse allerdings wirtschaftlich auch wichtig. Aber Nachos und stark Riechendes brauche ich persönlich auch nicht.
Wie will man die Regeln bei Kinderfilmvorstellungen durchsetzen? Die laufen herum und reden miteinander.
Ja, aber die Kinder kommen normalerweise mit Bezugspersonen. Sicherheit ist natürlich zentral. Aber Kultur ist ein Lebensmittel. Man muss eben auch da abwägen, ob die Sicherheitsmaßnahmen reichen. Bei vorherigem Onlineticket-Verkauf mit festem Sitzplatz kann man ja sehr gut eine Kontaktverfolgung machen. Und erwachsene Zuschauer*innen sind im Kino eher ruhig – das ist schließlich keine Tanzveranstaltung.
Was bedeutet die geringe Auslastung für die Kinobranche noch?
Neben den finanziellen Einbußen bedeutet das auch eine geringere Filmvielfalt – für Multiplexe ist das anders, die zeigen Filme eh in mehreren Sälen, aber kleinere Kinos würden bei einer Auslastung von 25 Prozent einige Filme gar nicht mehr vorkommen lassen – das ist meine Sorge. Wir brauchen die Vielfalt, und wir müssen davon leben können. Wir wollen ja nicht voll subventioniert werden – aber bis zu einer echten Normalität braucht es staatliche Unterstützung.
Könnten angesichts des Film-Rückstaus und der übrigen Problematik kleinere Filme nicht von einer VoD-Auswertung profitieren? So könnten sie überregional laufen – und nicht nur in den Arthousekinos von drei Großstädten. Ist das keine Lösung?
Nein, das glaube ich nicht. Abgesehen davon, dass durch Streaming auch kaum Gewinne erwirtschaftet werden, sind wir doch alle erschlagen vom Online-Angebot – vielleicht funktioniert das mit einem Blockbuster wie „Trolls“, der international ein großer Erfolg war und sogar nebenbei Merchandise verkauft. Kinomarketing ist teuer – aber effizient. Und gerade für Arthousefilme sind Festivals und der Start im Kino essenziell. Festivals sind Vitrinen – mit Sich-Begegnen, Glamour und Vielfalt. Danach kommt der Erfolg im Kino – wie wir jetzt sehen, kann das die Plattform nicht ersetzen. Ich bin sicher, dass man das Kino gerade jetzt, im Zeitalter der Angebotsüberreizung, braucht, um Orientierung zu geben. Zudem kriegt man ohne Marketing in kleineren Städten auch VoD-Starts nicht mit. Die Menschen streamen vor allem Filme, die vorher im Kino liefen. Was wir brauchen, sind also kuratiertes Kino und gute Arthouse-Marketing-Strategien.
Werden es alle Kinos aus der Krise schaffen?
Mir macht weniger Sorgen, dass die Öffnungstermine nicht einheitlich sind, sondern eher, wie lange diese „neue Normalität“ gehen wird, und dass es danach eine Art Mainstreamisierung geben könnte, wie nach der Spanischen Grippe 1918, die das Hollywood-Studiosystem quasi hervorgebracht hat – vorher war der amerikanische Film viel vielfältiger! Ich habe Angst, dass die Kinos nach der Coronakrise aufgezehrt werden – und sich Geier mit viel Geld über sie hermachen. Wir hatten auch vor der Krise schon eine starke Marktmacht-Konzentration.
Und was kann man dagegen tun?
Das Best-Case-Szenario ist: Mit vereinten Kräften retten wir das Kino in seiner Vielfalt. Denn durch die Entbehrungen, die wir gerade durch die Vorsichtsmaßnahmen haben, könnten soziale Begegnungen an Bedeutung gewinnen. Das Unterstützen der lokalen Geschäfte, ob Kino oder Buchladen oder Theater, wächst gerade: Man ist froh, dass man die lokalen Strukturen hat. Wenn wir durchhalten, schaffen wir es. Dazu brauchen wir aber Geld. Die Mieten bleiben ja, und gerade mittelständische Kulturorte verfügen kaum über Rücklagen. Die Kinoprogrammpreise, die gerade verliehen wurden, sind wunderbar und helfen, sind aber auch schon in normalen Zeiten dringend notwendig.
Sie sind optimistisch?
Eigentlich ja. Im letzten Jahr gab es einen Publikumsanstieg im Arthouse-Bereich, nicht nur in Berlin, auch in anderen Städten, in denen die Kinobetreiber*innen sich viel haben einfallen lassen. Aber die Kosten wachsen mit – wenn man sein Kino aufrüstet, viel Werbung und Veranstaltungen macht, ist das teuer. Trotzdem: Film ist einfach das intensivste Medium. Ich bin sicher, dass auch im Jahr 2040 die Menschen noch ins Kino gehen werden. Denn Film ist ein Teil einer lebendigen Kultur, und jede Stadt, jeder Ort braucht Begegnungsstätten. Wir sind eben soziale Wesen.
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