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Frank-Walter Steinmeiers Rede zum 8. MaiDemokratie in Gefahr

Der Bundespräsident zieht in seiner Rede zum Tag der Befreiung eine kühne Linie vom NS-Terror nach Hanau. Kein Meilenstein, aber ein guter Bogen.

Ohne Publikum hält Frank-Walter Steinmeier seine Rede vor der Neuen Wache in Berlin Foto: Hannibal Hanschke/reuters

Berlin taz | Frank-Walter Steinmeiers Rede zum 8. Mai 1945 sollte großes Theater werden. Vor dem Reichstag sollten 1.600 Gäste einer vermutlich weit ausgreifenden, längeren Rede des Bundespräsidenten lauschen. Die Pandemie erzwingt die Schrumpfung dieses Rahmens auf das Minimale.

Nun spricht Steinmeier knapp 15 Minuten ohne Publikum vor der Neuen Wache Unter den Linden (die Gegend wurde sicherheitshalber weiträumig abgesperrt). Um den coronabedingten Mangel an Feierlichkeit zu kompensieren, ist der Auftritt als Staatsakt inszeniert, bei dem alle Verfassungsorgane anwesend sind. Das gab es, wie das Bundespräsidialamt wissen lässt, am 8. Mai bisher nur einmal. Der Versuch ist sichtbar, der Effekt beschränkt, weil formal.

Steinmeiers Rede enthält jene für offizielle 8. Mai-Ansprachen pflichtgemäßen Passagen. Die Einzigartigkeit der Shoah wird betont, ebenso die Dankbarkeit, dass Deutschland seit dem Tiefpunkt 1945 wieder zu einem akzeptierten Land hat aufsteigen dürfen. Leider nur sehr knapp wird der „Vernichtungskrieg, der in Berlin erdacht wurde“ in Erinnerung gerufen.

Denn die Abermillionen nicht-jüdische Opfer des NS-Terrors im Osten sind nach wie vor ein weitgehend unterbelichtetes Gebiet in der bundesdeutschen Erinnerungslandschaft. Die Initiative für ein Dokumentationszentrum, das die NS-Herrschaft in Europa zeigt, kommt politisch nicht recht voran. Der Bundespräsident könnte, ohne übergriffig ins politische Tagesgeschäft einzugreifen, das wenig Beachtete in den Fokus rücken. Müsste er das nicht sogar?

Von Weizsäckers ikonische Formel

Die gewissermaßen natürliche Referenz bundespräsidialer 8. Mai-Ansprachen ist Richard von Weizsäckers ikonische Formel von 1985: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung.“ Das war in der linksliberal geprägten Bundesrepublik damals eher common sense als Unerhörtes oder Neues. Dass Weizsäckers Rede solche Prägekraft entfaltete, hatte drei Gründe. Ein paar Tage zuvor hatten Kohl und Reagan in Bitburg auch Gräber von Waffen-SS-Leuten geehrt – CDU-Mann von Weizsäcker setzte dazu eine unüberhörbaren Kontrapunkt.

Er tat dies als Ex-Wehrmachtssoldat, der zudem als Anwalt seinen Vater in einem NS-Prozess verteidigt hatte. Der Diplomat Ernst von Weizsäcker war ein konservativer Gegner Hitlers gewesen, hatte aber Deportationen französischen Juden in Vernichtungslager unterschrieben. Und von Weizsäckers Formel war mit etwas wirklich Neuem verbunden: Er würdigte – souverän die Grenzen des Kalten Krieges überschreitend – den kommunistischen Widerstand gegen Hitler und die zivilen NS-Opfer in Polen und der Sowjetunion. Das war 1985 unerhört. Steinmeier fehlt ein ähnlich markanter Punkt.

Jazz zum 8. Mai

Jede Rede zum 8. Mai verweist unwillkürlich auf alle bereits gehaltenen Reden, die deren Hintergrundbeleuchtung sind. Wenn wir über die NS-Vergangenheit reden, reden wir auch immer über die Geschichte der Vergangenheitsbewältigung. Steinmeier macht mit einer knappen rhetorischen Bewegung diesen Kontext selbst zum Text. „Wir müssen Richard von Weizsäckers berühmten Satz heute neu und anders lesen. Damals war dieser Satz ein Meilenstein im Ringen mit unserer Vergangenheit. Heute aber muss er sich an unsere Zukunft richten. Damals wurden wir befreit. Heute müssen wir uns selbst befreien!“

In einem Jazzstück wäre dies jener Part, indem die Melodie improvisiert und anders phrasiert wird: Der 8. Mai ist nichts Abgeschlossenes – er weist in die Zukunft. So klangen auch schon der Refrain von Steinmeiers Reden in Yad Vashem und zu 100 Jahren Novemberevolution: Die Demokratie steht wieder unter Beschuss.

„Wir müssen uns wieder befreien – von der Versuchung eines autoritären neuen Nationalismus, von Fremdenfeindlichkeit und Demokratieverachtung“, die „die alten bösen Geister in neuem Gewand“ sind, so Steinmeier. Die Klimax der Rede lautet: „Wir denken an diesem 8. Mai auch an die Opfer von Hanau, von Halle und Kassel.“ Dies ist ein kühner, fast pathetisch anmutender Bogen ins Jetzt. Er schließt bundesdeutsche Normalität mit der moralischen Trümmerlandschaft 1945 kurz. Es ist nicht schlecht, einen Bundespräsidenten zu haben, der diese Botschaft sendet: Seien wir uns nicht zu sicher.

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12 Kommentare

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  • jeder Mensch soll ja lernfähig sein.

    Ich kann Herrn Steinmeier erst vollständig ernst nehmen, wenn er sich für und bei Murat Kurnaz entschuldigt hat.

    Darauf warte ich noch immer..................................................................................................................................................................................??

    • @Friderike Graebert:

      Danke für die Erinnerung an Murat Kurnaz, ich erwarte neben einer Entschuldigung eine umfassende Distanzierung Steinmeiers von damaliger Regierungspolitik und Akteuren Schröder/Fischer im Verhältnis zu den USA, einerseits Guantanamo Gefangnenlager in Sonntagsreden zu beklagen, andererseits von dort keinen erwiesenermaßen unschuldigen Gefangenen wie Kurnaz mit deutscher Staatszugehörigkeit trotz US Anfrage in Bremen Rückkehr nach Deutschland zu ebnen

  • Bundespräsident Steinmeier: „Wir müssen Richard von Weizsäckers berühmten Satz heute neu und anders lesen. Damals war dieser Satz ein Meilenstein im Ringen mit unserer Vergangenheit. Heute aber muss er sich an unsere Zukunft richten. Damals wurden wir befreit. Heute müssen wir uns selbst befreien!“

    Was Steinmeier ignoriert, 1985 ging es bei Weizsäckers Satz genau darum, uns im geteilten Deutschland, Europa für unsere Gegenwart 2020 zu befreien, was Weizsäcker unterließ, warum?, indem er Debatte eines Friedensvertrages mit ehemals 53 mit Deutschland kriegführenden Staaten mit weihevollen Floskeln geflutet erübrigen wollte, was ihm gelang. Dazu das Ausbleiben von 12 Millionen Zwangsarbeiter Entschädigungen 1939-1945 für vorenthaltenem Lohn, Kommunale, private, kirchliche Arbeitgeber Sozialbeiträgen dem Vergessen anheimzustellen, Entschädigung NS- Verfolgter, Juden, Sinti, Roma, Homosexueller, Deserteure auf die gesellschaftspolitische Agenda zu setzen. Das geschah, wenn überhaupt, eher symbolisch, erst nach Amtszeit Bundespräsidenten Richard von Weizsäckers.



    .

    Weizsäckers Persönlicher Referent Friedbert Pflüger hat in seinem Buch "Mit der Macht der Moral" 2010 bekundet, dass er von Weizsäcker 1985 abhielt, vor Weltöffentlichkeit „Junktim“ zu starten, nur dann vom 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung sprechen zu wollen, wenn der letzte Alliierten Kriegsgefangene der Stellvertreter des Führers Adolf Hitler, Rudolf Hess, aus Spandauerfestungshaft entlassen wird?



    Folge war, der Satz vom Tag der Befreiung blieb, der war nicht mehr aus der Welt zu schaffen und das mit durchschlagender Wirkung



    Anmahnungen der Entlassung Rudolf Hess aus seiner Haft wg. menschenrechtlicher Bedenken waren nicht neu, das hatte Bundespräsident Gustav Heinemann, verschiedene Regierende Bürgermeister von Westberlin, darunter Willy Brandt, Bundeskanzler Helmut Schmidt, Helmut Kohl ebenfalls vergeblich versucht.

    www.freitag.de/aut...rd-von-weizsaecker

  • Ich fand die Rede gut und wichtig. Steinmeier scheint genau der richtige Präsident zu sein im der heutigen Zeit. Er schafft es doch immerwieder den Nerv der Menschen zu treffen. Vielleicht auch von jenen, die ihn gar nicht mögen...

  • 9G
    90118 (Profil gelöscht)

    ein sehr schöner text, danke!

  • Selbstgestrickte Legenden des Weizsäcker Clan & Friends wie Gräfin Dönhoff seit 1945 mag ich nicht lesen.

    Was bitte ist ein konservativer Gegner Hitlers, ein von Weizsäcker, der 1946 verurteilte Kriegsverbrecher, der evtl. mit Englandpolitik des Führers hadert aber Vernichtungskrieg im Osten nicht billigt, in Rom 1944 Pius XII droht, falls er Judendeportation behindert, werde Vatikanstaat von SS Kampfverbände besetzt, der sich April 1945 bis August 1946 besinnt, unter Obhut Heiligen Stuhls völkerrechtlich Immunität zu erlangen, Auslieferungsersuch durch Nürnberger Tribunal auszusitzen.



    Im Januar 1919 verhalf Ernst von Weizsäcker als Korvettenkapitän Admiralstab der Seekriegsleitung dem am Mord an Karl Liebknecht beteiligten Horst von Pflugk-Harttung (1889–1967) zur Flucht, vermutlich in das Staatsverbrechen eingeweiht, gar versrtrickt?



    Weizsäcker war mit seiner SS-Aufnahme 20.4.1938 dem persönlichen Stab Himmlers zugeteilt, diesem unterstanden die privaten Organisationen „Lebensborn“, „Freundeskreis Reichsführer SS“, „Ahnenerbe“, die SS Wewelsburg



    3. Oktober 1942 schreibt Weizsäcker an Himmler: „Hiermit melde ich Empfang des mir vom Reichsführer SS verliehenen Totenkopfrings. de.wikipedia.org/w...on_Weizs%C3%A4cker

    Beispiel Legendenakrobatik Weizsäcker Clans:

    FAZ Gespräch 2010 mit Frank Schirrmacher: Richard von Weizsäcker: ..dass sein Vater, Ernst von Weizsäcker 1936 Thomas Manns Ausbürgerung einleitet, habe er erst durch aktuelles Buch „Das Amt“ erfahren, bar jeder Empathie in Ton verfällt, als gebe es Grund zu Thomas Manns Ausbürgerung, Enteignung Vermögens durch das Dritte Reich:



    „Wir haben wohl einige politische Stellungnahmen Thomas Manns, vor allem aus der Zeit der „Betrachtungen eines Unpolitischen“, nicht für seine stärkste Seite gehalten. Aber sein Riesenwerk „Joseph und seine Brüder“ haben wir immer als genial empfunden.“

    www.freitag.de/aut...c-im-braunen-nebel

    • @Joachim Petrick:

      Korrektur:

      Der Satz oben enthält unkorrekt ein "nicht billigt", korrekt lautet der Satz:

      "Was bitte ist ein konservativer Gegner Hitlers, ein von Weizsäcker, der 1946 verurteilte Kriegsverbrecher, der mit Englandpolitik des Führers hadert, aber Vernichtungskrieg im Osten billigt, ........."

  • Zitat: „Damals wurden wir befreit. Heute müssen wir uns selbst befreien!“

    Mal ganz im Ernst: Wer glaubt, dass Steinmeier mit seinem „wir“ tatsächlich auch sich selber meint? Sind Nazis nicht immer nur die anderen?



    Ich frage mich ernsthaft: Kann sich irgendwer einen Bundespräsidenten vorstellen, der sich um der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit willen eigenhändig von seinen Privilegien befreit? Von Privilegien, die ihm angeblich zustehen als Teil der nationalen Elite? Und zwar ganz unabhängig vom sozialen Anspruch der Partei, der er seinen Aufstieg zu verdanken hat?

    Es wird immer wieder gern betont, die Deutschen wären vom Nationalsozialismus befreit worden, nicht etwa vom Faschismus. Kann sein, das ist nur eine Frage des sprachlichen Wohlklangs. Kann aber auch sein, es ist - bewusst oder auch nicht - eine Frage des politischen Instinktes.

    Womöglich ist die Wortwahl ja der Tatsache geschuldet, dass eine Mehrheit der Deutschen sich lieber vom Nationalsozialismus befreit sehen möchte als vom Faschismus. Weil sie sich dann gleich doppelt glücklich schätzen darf: Befreit von der Nation, der sie laut ihren Ausweispapieren angehören, die sich vor 1945 allerdings nicht eben mit Ruhm bekleckert hat, und außerdem befreit vom Sozialismus, der angeblich alle gleich machen will. (Außer denen natürlich, die die Nation regieren.)

    Vom Faschismus hingegen braucht die Mehrheit der Deutschen ihrer Meinung nach nicht befreit zu werden. Faschisten waren die Deutschen von heute nämlich nie. Und sie können sich auch ums Verrecken (der anderen) nicht vorstellen, dass sie welche gewesen wären vor 1945. Weil: Was Faschismus überhaupt ist, weiß man bis heute nicht genau. Man will es nicht mal ansatzweise wissen. Denn wüsste man es, müsste man sich vielleicht schämen für das, was man seiner Meinung nach ganz zu recht ist oder doch zumindest gerne wäre: was besseres.

  • 7G
    76530 (Profil gelöscht)

    Corona hinterlässt Spuren. Nun offenbar auch bei den führenden Repräsentanten dieses Landes.

    Herrn Steinmeiers "kühne Linie" wollte der hessische MP Bouffier offenbar in seinem Interview mit der FAS noch toppen.

    Männer, die Geschichte schreiben - ohne Geschichte zu kennen. Von Kassel 2006 bis Hanau 2020. Bis zur Kenntlichkeit verzerrt.

    Ein Trauerspiel - wahrlich kein Feiertag.

  • Ein Bogen der Hanau mit den Nazis verbindet. Ohne die Bedrohung der parlamentarischen Mehrheiten durch die AfD würde das Ende des Zweiten Weltkrieges kaum interessieren. Es ist - vor allem für die Erben der DDR - nur noch Mittel der parteipolitischen Auseinandersetzung.

  • Die Demokratiegefährder

    Die Demokratie wurde mit Hartz IV so richtig in Gefahr gebracht!



    Und da war die SPD mit ganz vorne dabei, der auch Steinmeier angehört. Auch er war Befürworter von Hartz IV - und ist es noch heute. Eifrig unterstützt wurde die SPD von den Grünen und fleißig sekundiert von FDP und CDU/CSU.



    Die Nazis kamen damals so richtig auf, als die Arbeitslosenzahlen nach oben schnellten (ab Oktober 1929).

    Lehren aus der Geschichte?



    ...