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Verkehrspolitik in HamburgRadentscheid mit angezogener Bremse

Die Einigung der Volkinitiative Radentscheid mit dem rot-günen Senat ist schön auf dem Papier, könne aber auch kontraproduktive Effekte haben.

Im Verkehrsfluss: Radlerin auf der Fahrbahn Foto: Daniel Reinhardt/dpa

Hamburg taz | Die Einigung der Volksinitiative Rad­entscheid mit dem rot-grünen Senat enthält viele schöne Programmpunkte. Doch die stehen zunächst nur auf dem Papier, und das könnte sich sogar als kon­traproduktiv erweisen.

Was jetzt verabredet wurde, konzentriert sich ausdrücklich auf Kinder und Jugendliche sowie alte Menschen. So richtig das Ziel ist, auch diese zum Umsteigen aufs Rad zu motivieren, so falsch ist es, die Verbesserung der Infrastruktur für die zu hemmen, die jetzt schon Rad fahren.

Das ausufernde Sicherheitsdenken, das hinter dem Konzept steckt, wird den kontraproduktiven Effekt haben, dass es für geübte Radler eher schwieriger als einfacher wird, im Verkehr auf der Straße mitzuschwimmen. Fein säuberlich, mit Barrieren abgetrennte Radwege signalisieren Autofahrern, dass sie allein das Recht haben, sich auf der Fahrbahn zu bewegen.

Sie glauben es ohnehin schon – bloß, weil sie eine Tonne Stahl mit sich herum­transportieren und nicht nur zwölf Kilo wie ein Radler. Künftig werden sie wieder glauben, keine Rücksicht nehmen zu müssen, weil die Radler gefälligst die teuren, extra für sie gebauten Radverkehrsanlagen benutzen sollen. Mit dem Radeln im Mischverkehr dürfte auch die Diskussion über Tempo 30 in der Stadt im Keim erstickt werden. Das kann nicht die Zukunft sein.

Teuer statt pragmatisch

Sie ist es auch deshalb nicht, weil diese Lösungen teuer sind. Es sind schöne Versprechungen, die weder zeitlich noch finanziell unterlegt sind. Schon die früheren Ausbaupläne sind selbst mit grüner Regierungsbeteiligung nur zum Teil realisiert worden. Und dabei beruhte vieles auf einer pragmatischen Lösung: den Verkehrsraum umzuverteilen, in dem man eine Arbeiterkolonne Streifen auf die Fahrbahn spritzen ließ.

Man darf SPD und Grünen glauben, dass sie die Verkehrswende vorantreiben wollen. Und ja: Mehr Komfort und bauliche Sicherheit wären schön. Doch diese Lösungen sind aufwendig und die Wirtschaftskrise wird den Haushaltsspielraum verkleinern. Der inklusive Ansatz der Volksinitiative Radentscheid sollte auch jenen Raum lassen, die sich auf dem Fahrrad nicht per se unsicher fühlen. Es wäre schade, sie auszubremsen.

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8 Kommentare

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  • Vielen Dank für den Kommentar.

    In der Tat: In der Umsetzung wird das vor allem die Rückkehr zum Hochbordradweg bedeuten und die Haltung "Radfahrer gehören grundsätzlich nicht auf die Fahrbahn" wird sich wieder durchsetzen. Schade!

  • "Das ausufernde Sicherheitsdenken, das hinter dem Konzept [des Radentscheid Hamburg] steckt, ..."



    Ist damit Vison Zero gemeint? Dann sollte man bedenken, dass das bisherige Verkehrssicherheitsdenken zu ausufernder SUVisierung führt.



    Zum Punkt: Kfz/Fahrrad/Strasse. Man kann auf 2 Arten "Platz einfordern". Mann gegen Mann, d.h. Radfahrende gg Kfz auf der Fahrbahn. Geht nur für wenige und ist sehr opferreich. Oder durch den Bau von guter Radinfrastruktur. Geht für viele und ist der sichere Weg.

    Dazu die TU Berlin zum State of the Art des "Share the road", den Radführungen in Mittellage (RiM) aka Angstweichen. Die Studie erschien Mitte letzten Jahres.



    www.strassenplanun...ussbericht_RiM.pdf



    Anstieg der Schwerverletzten im 3Jahre vorher-3J nachher Vergleich: 50% (S. 26). Das, obwohl die unfallauffälligen Alterskohorten, die Senioren, Kinder und Jugendlichen, infrastrukturbedingt aussortiert waren.



    "4.3.2 Alter und Geschlecht der betroffenen Radfahrenden



    In Konflikte involvierte Radfahrende sind zu 99 % der Altersgruppe der Erwachsenen zuzuordnen. Rad fah-rende Jugendliche waren mit deutlich unter einem Prozent ebenso selten in Konflikte involviert, wie Senioren auf dem Rad. Der geringe Anteil beider Altersgruppen im Rahmen der Konfliktanalyse kann dabei auch durch die geringe Zahl der RiM-nutzenden Radfahrenden in diesen Altersgruppen erklärt werden."



    Ihre (theoretischen) Unfallzahlen kämen noch obendrauf, denn eine bloße Verdrängung von Risiken aus der Statistik ist kein Sicherheitsfortschritt, sondern muss in die Beurteilung der Sicherheit einfließen.

    Kinder und Jugendliche sind nicht nur Indikatoren für die Radverkehrssicherheit (ebenso wie Senioren und Frauen), sie sind in besonderen Maße auch Inikatoren für den langfristigen Erfolg, für die Nachhaltigkeit einer Radverkehrsstrategie.

  • War noch nie jemand in unseren Nachbarländern Niederlande und Dänemark?



    Da kann man doch sehen, wie es geht.

    Klar ist es schwerer nachträglich eine Fahrrad Infrastruktur in eine Stadt zu integrieren, aber was in Kopenhagen ging, kann doch für Hamburg ein Vorbild sein.

    Aber natürlich können auch schmale Radwege mit Boardstein links und rechts verlegt werden, auf denen Überholen unmöglich ist und man mit Kinderanhänger ständig aufpassen muss anzustoßen. Schön teuer und gefährlich, kann man dann nach 2 Jahren wieder abreißen und sich was neues ausdenken.

  • Kurz nur 3 Punkte.



    Es geht nicht um "geübte" oder "ungeübte".



    Sehr viele Geübte haben keine Lust bzw. keinen Nerv, durch Kfz in Bedrängnis zu geraten.



    Denn Geübte kennen das Risiko, sie begegnen ihm täglich, deswegen sind sie geübt.



    Nicht wenige Geübte hören wegen des täglich erfahrenen Risikos mit dem Radfahren auf.



    "Hoch stresstolerant" bzw. "stressintolerant" ist die passende Kategorie.

    2. Vision Zero/Menschenbild



    “Humans make errors and willingly or unwillingly break rules. This is a given that cannot be changed.

    Roads and streets should be designed in such a way that this natural human behavior does not lead to crashes and injuries.”



    Geht nicht mit Farbe.



    Der Vision-Zero Gedanke (mehr Sicherheit im System statt nur individuelle Verantwortung) wurde jüngst von den LandesVerk.ministern gg den Bundesminister auch in die StVO gedrückt. Er wirkt der SUVisierung strukturell entgegen.

    Radverkehrsinfrastruktur ist vergleichsweise sehr günstig. Wird sie jedoch zum Billigheimer des Haushalts, so wird Radverkehr im Wortsinne "totgespart" (siehe hierzu auch das Wort des Jahres in Belgien: "Mordstreifen" für 'Schutz'streifen).

    3. Kinder



    In den fahrradnationen wird der Kinderanteil am Radverkehr stets an ptominenter Stelle kommuniziert.



    Das liegt nicht daran, dass die sich mit ihrer Kinderfreundlichkeit brüsten wollen.



    Das liegt an der Radverkehrsstrategie.



    Man weiß dort, dass nur diejenigen als Erwachsene radfahren, die es schon als Kinder getan haben.



    Je höher der durch z.B. Schulradwege generierte Anteil der Kinder, die radfahren, bei denen aktive Mobilität zum Alltag gehört, desto mehr Erwachsene, die man, unterstützt durch entsprechende Infra, auf's Rad kriegt und die einen aktiven Lebensstil pflegen.



    Die Kinder sind die Basis der Pyramide. Das ist der Grund, weshalb in Fahrradländern versucht wird, möglichst viele Kinder auf's Rad zu kriegen und ihr Anteil die Meßlatte für den Fortschritt und die Nachhaltigkeit der jeweiligen Radverkehrsstrategie darstellt.

  • Danke für den Kommentar.



    Fahrräder sind Fahrzeuge.



    Fahrzeuge fahren nach der StVO auf den Fahrbahnen der Straßen.



    Kraftfahrzeuge haben sich so zu verhalten, das RadlerInnen von Ihnen nicht gefährdet werden.



    Es gibt jede Menge sehr guter Radwege: Die Fahrbahnen.

    • @Wagenbär:

      Erklären Sie das den Eltern, deren Kinder von Kraftfahrzeugen tödlich verletzt wurden und der Täter mit bis zu 1200 Euro einfach weiterfahren kann.

      • @Cor:

        Ein Blick in die amtilichen Unfallstatistiken kann solche Irrtümer (hier: "Kinder sind besonders oft durch tödliche Fahrradunfälle betroffen") vermeiden.



        Weder sind Radelnde Kinder besonders oft überhaupt Opfer bei Verkehrsunfällen, noch kommen solche Unfälle öfter vor, wenn Kinder mit Fahrrädern auf den Fahrbahnen fahren.

      • @Cor:

        Die werden auch mit konventionellen Radwegen oder auf Radstreifen, insbesondere beim Abbiegen, tot gefahren. Leider.



        Das Problem ist m.E. das Verkehrsklima und die Abgelenktheit der Kfz Führer.



        Polizei und Politik tun nichts dagegen. Im Gegenteil, die HH Polizei z.B. sieht die Radler offensichtlich als die größte Gefahr.