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„HastwohldeineTage?!“

Pubertät, Wechseljahre, Morgengeilheit, PMS: Immer wieder scheinen die Hormone die Kontrolle über unser Verhalten zu übernehmen. Aber ist es wirklich so einfach? Nein, natürlich nicht!

Von Nataly Bleuel (Text und Protokolle) und Karoline Löffler (Illustration)

Wir stehen in der Küche, mein Sohn und ich, und vermutlich war mein Ton mal wieder verrutscht. Ins Schrille, unter Druck, gereizt. Unschön jedenfalls, das wurde mir – wie immer – erst im Nachhinein bewusst. Ich muss etwas mir Selbstverständliches wie „Stell den Teller in die Spülmaschine“ oder „Hast du an die Hausaufgaben gedacht?“ auf eine Weise kommuniziert haben, die ihm missfiel.

Er dreht sein Gesicht weg und sagt: „Hast wohl deine Tage?!“

Vor meinen Recherchen wäre ich umgehend ausgetickt. Sei nicht so frech! Was soll das?! Ich hätte mich torpediert gefühlt. Ja, auch erkannt. Vor allem aber: nicht ernst genommen. Lächerlich!

Doch seit ich mich mit den Hormonen beschäftige und den Bedeutungen, die wir ihnen zuschreiben, verstehe ich diese Stimmungsschwankungen besser.

So oft habe ich sie zu verdrängen versucht, dass es mich irgendwann fuchsig und wissbegierig machte. Ich beschloss, meine (Ver-)Stimmungen durchschauen zu lernen. Sie sind, das ahne ich mittlerweile, ein im Leben vieler Menschen wiederkehrender Zustand. Und sie haben eine meist ähnliche (Ab-)Folge. Wie ein Reiz-Reaktions-Schema, ein hormonelles. Aber eines zwischen den Menschen. Es betrifft ihre Interaktion, ihren Alltag, ihre Beziehungen, ihr Selbstbild und ihr Fremdbild – und somit ihre Kultur und ihre Weltsicht.

Hormone machen Gesellschaft. Oder gibt die Gesellschaft den Hormonen durch ihre Zuschreibungen erst eine Bedeutung, die sie für sich genommen vielleicht gar nicht haben? Jedenfalls nicht so eindeutig und einschränkend, sondern vielfältiger, komplexer, diverser? Macht also auch die Gesellschaft Hormone? Welche Rolle spielen sie wirklich?

Bei einer hormonellen (Ver-)Stimmung ist man im Kopf wie vernebelt. Ist der Körper nicht voll unter Kontrolle. Gehorchen Stimme, Hirn, Haut, Blick, Atem nicht mehr ganz. Und dann stellen sich – zu allem Überfluss, da man sich eigentlich vor der Welt verkriechen möchte – Wallungen ein: Gereiztheit, man möchte aus der Haut fahren; Traurigkeit, einen Grund zum Weinen findet man immer; Erschöpfung, totale Erschöpfung, Zorn und, wenn es gut läuft, Euphorie, himmelhoch jauchzend, vollkommen verstrahlt.

Diese (Ver-)Stimmungen sind aber nicht nur deshalb Schlüsselreize, weil man darin reizbar ist. Sie sind sogar Schlüsselfiguren. Weil sie begleitet werden von einer in sich geradezu zwanghaften Gedankenabfolge. Die geht so: Ich bin neben der Spur. Ich kann mich gerade selbst nicht ausstehen. Aber es ist jetzt mal so. Vielleicht auch okay, man kann ja nicht immer funktionieren.

Doch wehe, ein Außenstehender hält mir jetzt den Zerrspiegel vor und reduziert mich auf ein deterministisches Phänomen wie PMS, Wechseljahre, Schilddrüsenunterfunktion. Pubertät, Testosteronüberschuss. In diesem Zustand will man ernst genommen werden – sogar wenn einem selbst nicht danach ist. Keiner soll dann sagen: Hast wohl deine Tage?!

Weil es mich demütigt. Weil es mich zu einem triebgesteuerten, hirnverbrannten, nicht zurechnungsfähigen Wesen degradiert. Ich bin aber keine hysterische, hormongesteuerte Zicke, der man die volle Teilhabe am gesellschaftlichen Leben absprechen darf; mein jugendlicher Sohn ist kein blödes Pubertier, dessen rebellische Kraft man ins Lächerliche ziehen muss; und der Mann: nicht nur schwanzgesteuert.

Und jetzt kommt der Dreh: Wenn die hormonelle Verstimmung vorbei ist, tippe ich mir selbst an die Stirn, denn mit einem Schlag wird mir klar: War doch nur PMS, die Pubertät, das Testosteron. Das ist verrückt! Total paradox!

Hinter Paradoxien stecken ja meist interessante Knackpunkte des menschlichen Zusammenlebens, Tabus zum Beispiel. Und im Fall der (Sexual-)Hormone steckt dahinter eine Verwirrung von Innen und Außen, von Körper und Konnotation, von Selbstbild und Fremdbild, von Natur und Kultur.

Ein Hormon ist ein Botenstoff, ein biochemischer. Im Körper vermittelt er Informationen. Das Hormonsystem ist, wie das Nervensystem, ein Kommunikationssystem. Zellen in Hormondrüsen sondern Sekrete ab, die, übers Blut transportiert, andernorts an speziellen Zellrezeptoren andocken. Hormone regulieren im ­Körper Wachstum, Ernährung, Atmung, Stoffwechsel, Blutdruck, Salz- und Wasserhaushalt, Sexualfunk­tio­nen, Schwangerschaft, Geburt, Wachen und Schlafen und den Appetit. Ohne das Zusammenspiel von Insulin, Adrenalin, Serotonin, Cortisol, Thyroxin, Dopamin, Melatonin, Calcitriol, Testosteron, Östrogen und weiteren Hunderten von Hormonen kann kein Mensch überleben.

Wir ahnen das irgendwie. Obwohl nicht mal Endo­krino­lo­g*innen alles über die sekündlich 100 Billionen Stoffwechselvorgänge im Körper wissen. Und wir tun es im Alltag oft so ab, als wären wir gesteuert von den Hormonen, ferngesteuert. Als hätten wir keinerlei Einfluss auf unser Empfinden und unser Verhalten. Als wären unsere Körper von der Umwelt abgeschlossene Maschinen mit einer oder mehreren Schaltzentralen, im Hirn, in den Genen, in den Drüsen – die alles regeln, und zwar Top-down.

Ein Körper kommuniziert mit der Welt, in der er lebt. Das klingt banal. Doch die Erkenntnis scheint ein wenig in Vergessenheit geraten zu sein, seit wir uns begeistern an allem, was in oft körperlosen Maschinenräumen zu stecken scheint: Rechenmaschinen wie Computern, der Entdeckung des Gehirns, der Entschlüsselung des Genoms. Dazu kommt die unglaubliche Rasanz, mit der sich das medizinische Wissen vermehrt. In der wissenschaftlichen Datenbank Pubmed findet man unter dem Stichwort „Hormone“, Stand 18. Februar 2020, 1.555.076 Studien.

Wenn eine Medizinstudentin ihre Arbeit als Ärztin aufnimmt, kennt sie ungefähr 6 Prozent des gegenwärtigen medizinischen Wissens – und das verdoppelt sich je nach Studie in 75 oder 700 Tagen oder 5 Jahren. Jedenfalls so schnell, dass jede weise Wis­sen­schaftler*in wie Platon weiß, dass sie nichts weiß.

Doch das passt uns gerade nicht so. Wir wollen einfache Antworten. Weil die Welt anscheinend zu vielfältig ist, auch ein bisschen paradox. Und statt zu staunen, wie komplex der Körper ist und wie unterschiedlich die Menschen sind, und gerade deswegen weiter zu fragen, repetieren nicht wenige man­tramäßig die ewig gleichen bescheuerten Antworten und Diskurse: Frauen von der Venus, Männer vom Mars, Mario mit Bart und alle anderen raus hier.

Hauptsache, hier Weiß und da Schwarz, hier oben und da unten: unten. Und da unten in den Eierstöcken Östrogen, und da drüben in den Hoden Testosteron. Stimmt aber so ausschließlich auch nicht. Das kann man anhand von Studien belegen, und einige Forscher*innen tun dies, unter anderem die in dem weltweiten Neurogenderings Network.

Dazu gehört auch die britische Psychologin Cordelia Fine, die in ihrem Buch „Testosterone Rex. Myths of Sex, Science and Society“ eine provokante These aufstellt: „Testikel sind auch nur ein soziales Konstrukt.“ Auch der Neurobiologe Richard Francis sagt, soziale Konstellationen würden die geschlechtlichen Konstellationen regulieren.

Beispiel Testosteron. Es ist wie die Östrogene ein Sexualhormon, und es reguliert Muskel- und Haarwachstum, die Ausbildung der Geschlechtsorgane und ein paar andere Prozesse – auch im Gehirn. Da hilft das Testosteron, neue neuronale Wege auszubilden, indem es sich mit Nervenzellen verbindet und deren Eiweißproduktion verändert, auch Genexpression genannt, wodurch sich das Testosteron mitunter in Östrogen verwandelt.

Östrogen kann aber auch vom Gehirn hergestellt werden und in Bauchfett und in den Eierstöcken. Es stößt allerhand Prozesse an, bei allen Geschlechtern. Wobei Männer zehnmal so viel Testosteron haben wie Frauen. Aber beide morgens am meisten, weshalb da oft auch die Lust am größten ist. Auf jemanden, der oder die unter Umständen lecker neben einem liegt und die Fantasie und die Hormone triggert.

Denn Hormone, sagt die ­vergleichende neuroendokri­nologische Verhaltensforsche­rin Elizabeth Adkins-Regan, lösen nicht ein bestimmtes Verhalten aus, sondern machten „eine bestimmte Reaktion auf einen Anlass wahrscheinlicher“. Und zwar auf einen körperlichen, sozialen oder auch entwicklungsbedingten. Der Mensch, Pardon, Mann, ist nach Meinung einiger For­scher*innen also nicht testosterongetrieben, sondern sein Testosteron wird durch vielfältige Auslöser angeregt. Und treibt dann auch individuell unterschiedlichen Blüten.

Beweise? Voilà: die Väterstudien. In groß angelegten Langzeitstudien auf den Philippinen fand der Neurosoziologe Lee Gettler heraus, dass Vaterschaft das Testosteronlevel bei Männern reduzierte, und zwar desto mehr, je mehr sie sich eng mit den Kindern beschäftigten. Jedoch war es nicht so, dass Männer mit einem niedrigen Testosteronlevel sich ihren Kindern automatisch ausgiebiger widmeten.

Ein Körper kommuniziert mit der Welt, in der er lebt. Diese Erkenntnis scheint in Vergessenheit geraten zu sein

Eine weitere Studie, durchgeführt von der Verhaltens-Neuroendokrinologin Sari van Anders, mit schreienden Babypuppen und drei zufällig zusammengewürfelten Gruppen von Männern: Der ersten Gruppe wurde gesagt, sie stelle den traditionellen Typ Vater dar, der es der Mutter überlässt, sich um das Baby zu kümmern; sie sollten dasitzen und das Kind schreien lassen. Auch die zweite Gruppe sollte einen traditionellen Vater verkörpern, der aber ranmuss, weil die Mutter gerade verhindert ist. Die dritte Gruppe stand für progressive Väter, die den Umgang mit Babys gewöhnt sind.

Nach dem Babytest wurde das Testosteronlevel der Männer gemessen – die, noch mal, gar nicht unbedingt dem Typus Vater entsprachen, den sie darstellen sollten! Sondern sie fügten sich in die Rolle, die sie in diesem Experiment gegenüber dem Kind zugewiesen bekamen. Ein Als-ob.

Ergebnis: Bei den progressiven Vätern sank der Testosteronspiegel, sobald sie das Kind beruhigen konnten. Bei den Männern, die traditionelle Väter spielen sollten und denen es nicht gelang, das darauf programmierte Baby zu beruhigen, stieg er; und ganz besonders bei denjenigen, die nichts tun durften, während das Kind weiter schrie. Ergo: Der gleiche Reiz – ein schreiendes Kind – beeinflusste den Testosteronspiegel unterschiedlich. Und zwar abhängig davon, wie sehr sich ein Mensch imstande fühlt, sich in der Interaktion mit einem anderen zu verhalten.

Der Hormonspiegel steigt also diesen Studien zufolge als Reaktion auf Rolle, Zuschreibung, Erwartung und Selbstverständnis. Nicht umgekehrt nach dem Motto: Angemessenes Verhalten ist nicht möglich, weil der Mann zu testosterongesteuert ist. Die Hormone bestimmen also nicht nur unser Verhalten, sie entstehen umgekehrt auch selbst in Reaktion auf Fremdbild, Selbstbild, Weltbild.

Wird geschlechtsspezifisches Verhalten also noch viel weniger von physiologischen Prämissen bestimmt, als bislang ange­nommen wurde? Diese These könnte zu einem Paradigmenwechsel in der Naturwissenschaft führen. Die kanadische Hirnforscherin Sari van Anders geht da mit ihren Studien voran, und es folgen all jene Wissenschaftler*innen, die Neurologie, Endokrinologie, Immunologie, Psychologie und Soziologie miteinander verbinden – und damit so neue Wege gehen, dass ihre akademischen Qualifikationen im Deutschen mit kaum übersetzbaren Wort­ungetümen bezeichnet werden.

Denn die Neuropsychoendokrinologie kehrt sich ab von dem Glauben, nur das Hirn oder nur die Gene oder die Hormone und damit vorwiegend die Evolution würden die Identität und das Verhalten eines Menschen bestimmen. Das bedeutet: Man betrachtet den Menschen von verschiedenen Disziplinen aus, individueller und mit mehr Offenheit für komplexe Zusammenhänge. Man hinterfragt Stereotype. Auch die eigenen, „wissenschaftlichen“. Sodass andere Fragestellungen entstehen, Studien und Studiendesigns. Die dann eben auch zu anderen Ergebnissen gelangen, siehe Väterstudien.

In einer weiteren Studie wurden Schauspielerinnen und Schauspieler angewiesen, ein*e Chef*in zu spielen, der oder die gerade eine*n Angestellte*n feuert. Wichtig auch hier, wie die einem zugewiesene Rolle und die dazugehörende Erwartung das Verhalten beeinflusst. Und dann auch die Hormone. Ergebnis: Der Testosteronspiegel stieg. Und zwar bei den Schauspielerinnen sehr viel mehr als bei den Schauspielern. Weil die Frauen ihr Verhalten für „männlich“ hielten?

Funktionieren Hormone also wie Verstärker? Das hat man anhand des sogenannten Ultimatum-Spiels untersucht. Bei dieser Versuchsanordnung sitzen sich zwei Probandinnen anonym an Computern gegenüber. Die eine erhält einen Betrag, den sie mit der anderen teilen muss. Sie darf sagen, wie geteilt werden soll, gerecht oder ungerecht. Ihr Gegenüber kann den Vorschlag ablehnen, dann gehen beide leer aus.

Den Frauen wurde außerdem gesagt, dass einige von ihnen eine Tablette mit einer Dosis von 0,5 Milligramm Testosteron bekämen, wodurch die Konzentration des Hormons im Blut auf das 10-fache steige. Die anderen bekämen eine gleich aussehende Tablette, die jedoch ohne Wirkung sei. Nach dem Spiel wurden alle Teilnehmerinnen gefragt, ob sie glaubten, das Hormon oder ein Placebo erhalten zu haben.

Ergebnis: Diejenigen, die glaubten, Testosteron eingenommen zu haben, hatten unfairere Angebote gemacht als jene, die glaubten, ein Placebo bekommen zu haben – unabhängig davon, ob sie nun einen erhöhten Testosteronspiegel hatten oder nicht. Die Studie bestätigte also das dem Klischee entsprechende (Dominanz-)Verhalten beziehungsweise zeigte, dass das Verhalten davon abhängt, welche Rolle man zu spielen glaubt: testosterongesteuert oder nicht testosterongesteuert.

Und nun die Überraschung: Das tatsächliche Verhalten war diametral entgegengesetzt zum erwarteten, denn die Frauen, die tatsächlich einen erhöhten Testosteronspiegel aufwiesen, hatten gerechtere Angebote gemacht als die mit normalem Testosteronspiegel. Vielleicht weil „männliches“, testosterongetriebenes Verhalten auch positive Seiten haben kann, etwa die, fürsorglich, beschützend und sogar gerecht zu sein?

Noch eine Frage: Gibt es einen Mutterinstinkt, oder ist die Behauptung, dass Frauen eine natürliche, von dem Hormon Oxytocin ausgelöste Anlage hätten, Kinder großzuziehen, eine gesellschaftliche Konstruktion? Die Metawissenschaftlerin Odile Fillod stellte vor einigen Jahren fest: Die Argumente für einen Oxytocin-gesteuerten Mutterinstinkt gehen alle auf die Arbeiten einer einzigen Primatenforscherin zurück, Sarah Blaffer Hrdy hatte in den 1970er Jahren an Affen, jedoch nie an Menschen geforscht. Keines ihrer viel zitierten Ergebnisse konnte im Labor reproduziert werden – weder bei Affen, noch bei Mäusen.

Auch der Neurowissenschaftler Gideon Nave kam in einer Metastudie zu dem Schluss, dass ein Großteil der Oxytocin-Studien den wissenschaftlichen Ansprüchen nicht genügt. Die Studiendesigns seien schlecht und schlampig gemacht gewesen und wissenschaftlichen Standards nicht angemessen genug, um irgendetwas beweisen zu können. Die wenigsten konnten wiederholt und verifiziert werden.

Studien jedoch, die zeigten, dass Oxytocin das Verhalten von Menschen nicht beeinflusst, wurden gar nicht erst veröffentlicht. „Es ist eben eine super Geschichte“, sagt Nave, „dass ein und dasselbe Hormon Wühlmäuse monogam macht, Milcheinschuss und Geburt beeinflusst und einen dazu bringt, Fremden Geld zu schenken.“

Wir nennen Oxytocin „Kuschelhormon“. Wir veröffentlichen gern Studien, die simpel und sensationell klingen. Und wir glauben gern, dass Mäuse, Menschen und Buntbarsche sich so ähneln, dass unser aller Verhalten übertragbar wäre. Die Medien – also Menschen, die etwas vermitteln, erklären und berichten wollen – picken sich gern Studien heraus, die mit sensationellen oder schillernden Ergebnissen aufwarten. Studien, die die Glaubensvorstellungen ihrer Leser*innen belegen, denn nicht wenige Medien­macher*innen glauben, sie müssten ihrer Leserschaft schmeicheln, indem sie sie in ihrer Meinung bestätigen.

Seltener zitiert werden komplexe Studien, die nicht eindeutig belegen, was man schon immer gern glauben wollte. Und womit man kein so gutes Geschäft machen kann, auch Pharmafirmen nicht.

Ein anderes Beispiel ist die Behauptung, Mädchen und Jungen hätten von Geburt an unterschiedliche Vorlieben, was am Testosteron im Mutterleib liege. Der meistzitierte vermeintliche Beweis dafür, dass geschlechtsspezifisches Verhalten angeboren sei, stammt von der Uni Cambridge. Am Lehrstuhl für Psychologie haben Simon Baron-Cohen und seine Doktorandin mit einer Studie an Neugeborenen 2005 bewiesen: Säuglinge handeln nur wenige Tage nach der Geburt eindeutig „männlich“ oder „weiblich“. Die Ursache dafür müsse biologisch sein.

Bei Männern reduziert die Vaterschaft das Testosteronlevel. Und zwar umso stärker, je mehr sie sich eng mit ihren Kindern beschäftigen

Das pränatale Testosteron, das bei Föten zur Ausbildung von Hoden führt, sei der Grund, warum die männlichen Säuglinge sich bei Vorlage eines Bildes für das Auto entschieden und die weiblichen ihren Blick länger auf Gesichtern verweilen ließen. Daher könnten Jungen besser räumlich sehen, während bei Mädchen andere Gehirnregionen stärker ausprägt seien und sie so einen Hang zu Kommuni­kation und Sozialem entwickelten.

Die Psychologin Cordelia Fine sah sich die Studie noch einmal an und stellte fest: Sie hielt wissenschaftlichen Standards nicht stand. Die Proband*innenzahl war zu klein, um aussagekräftig zu sein; die Autorin der Studie hatte sämtliche Experimente selbst durchgeführt, sie wusste um das Geschlecht des jeweiligen Säuglings, die Studie war also nicht „doppelblind“ für Proband*innen wie Forscher*in.

Und obwohl der Ausgang denkbar uneindeutig und knapp war, veröffentlichte die Universität die Studie als ultimativen Beweis. Als solcher gilt sie weiterhin. Sie wurde nie reproduziert. Und die Fragestellung war nicht offen, sondern darauf angelegt, zu beweisen, dass es diese Unterschiede gibt. Man nennt das Scientific Bias. Bias für: Verzerrung, Tendenz, Vorurteil.

„Die Wissenschaft lässt uns glauben“, schrieb die Medizinwissenschaftlerin Nelly Oudshoorn 2002, „Wahrheitsansprüche seien grundsätzlich unabhängig von irgendwelchen sozialen Zusammenhängen.“ Sind sie aber nicht – auch nicht in den Naturwissenschaften. Und deswegen gilt es, die Wissenschaft selbst zu hinterfragen. Das tun unter anderen Meta­wis­senschaftler*innen, sie sind nicht immer Natur­wis­sen­schaftler*innen, und sie dekonstruieren und analysieren, wie bestimmte an Macht gekoppelte Diskurse den Körper jedes und jeder Einzelnen beherrschen können.

Früher nannte man das öfter Diskursanalyse, und die betrieben so unterschiedliche Menschen wie: der Philosoph Michel Foucault („Die Ordnung des Diskurses“, 1970), die Denkerin Susan Sontag („Krankheit als Metapher“, 1978), die Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun („Nicht ich: Logik, Lüge, Libido“, 1985), die Soziologin Gerburg Treusch-Dieter („Von der sexuellen Rebellion zur Gen- und Reproduktionstechnologie“, 1990), die Medizinhistorikerin Barbara Duden („Der Frauenleib als öffentlicher Ort“, 1991) oder kürzlich die Schriftstellerin Siri Hustvedt („Die Illusion der Gewissheit“, 2018).

Diese Diskursanalyse ist ein nützliches Werkzeug, um Strukturen und Stereotype zu durchschauen – die dem Ich Möglichkeiten, Freiheiten und Spielräume rauben, in so wunderbar vielfältigen Systemen, wie die Welt eines ist, die Natur, die Menschen und die Hormone.

Ich weiß jetzt also, aufgrund der Beobachtungen und Recherchen über Hormone und der frechen Herausforderung zum Trotz, dass nicht nur Frauen Hormone haben. Sondern auch Männer. Mäuse. Und Minderjährige. Und dass wir alle mal mehr und mal weniger darunter leiden. Und zwar unter den mehr oder weniger puren physiologischen Stimmungen. Aber ebenso und vielleicht sogar noch viel mehr unter den Zuschreibungen von außen. Beides kann sich dann zu einer explosiven Mischung verdichten, in der sich Selbstbild und Fremdbild verheerend verheddern.

Mein 16-jähriger Sohn weiß das mittlerweile auch. Er ist jetzt öfter mal voll daneben, verpeilt, verstrahlt, verknallt oder verpickelt. Wir sind gerade beide in den Wechseljahren.

Ich lächle ihn an und antworte auf die Frage mit dem Subtext, ob ich hysterische Zicke hormonell bedingt nicht ganz zurechnungsfähig sei: „Vielleicht … Aber du weißt ja, wie das ist: Du hast ja jetzt auch manchmal deine Tage!“ Beim ersten Mal war er entsetzt. Ich, junger Mann? Meine Tage? Aber kürzlich hat er sogar mal genickt. Alles nur eine Frage der Zuschreibungen und Gewohnheiten.

Nataly Bleuel, 52, hat gerade das Buch „Das sind die Hormone. Wie sie uns durchs Leben dirigieren, wie sie Stimmung machen und wie wir damit umgehen“ bei C. Bertelsmann veröffentlicht.

* Die Autorin hat mit vielen Frauen und Männern Gespräche über die Hormone geführt und auf deren Wunsch Namen, Herkunft und Berufe anony­misiert.

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