Filmfestival Berlinale: Immer noch viele Filme im Fluss
Erstmals wird die Berlinale von Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek geleitet. Im Vorfeld gab es kontroverse Diskussionen.
Wenn nächste Woche die Internationalen Filmfestspiele Berlin beginnen, wird erst einmal wieder vieles vertraut erscheinen. In ihrem Aufbau hat sich die 70. Berlinale kaum verändert. Es gibt auch immer noch reichlich Filme zu sehen, selbst wenn die Zahl der Beiträge mit 342 dieses Jahr gegenüber den sonst üblichen 400 Filmen auf eine leichte Verschlankung hindeutet.
Drastischere Reduzierungen des Programms sind jedoch auch in näherer Zukunft nicht zu erwarten. Wie der neue künstlerische Leiter Carlo Chatrian diese Woche beim Akademie-Gespräch in der Berliner Akademie der Künste unter dem Titel „Wozu Filmfestivals?“ bekräftigte, hat es in seinen Augen keinen Sinn, ein Festival mit 100 Filmen zu bestreiten. Die Berlinale ist für ihn gerade als demokratisches Festival reizvoll. Hier könnten, anders als in Cannes oder Venedig, alle, die wollen, den Wettbewerb sehen: „Ich will jedem Zuschauer die Möglichkeit geben, so viele Filme zu sehen, wie er will“, so Chatrian.
Die neue Spitze mit Chatrian und der Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek hat eher kleine Änderungen vorgenommen. So gibt es im Wettbewerb keine Filme außer Konkurrenz, weshalb diesmal lediglich 18 Filme um den Goldenen Bären konkurrieren.
Neben vielversprechenden Beiträgen aus Deutschland – Burhan Qurbanis in die Jetztzeit versetzter Adaption von Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“ und Christian Pätzolds mythologischer Annäherung an Berlin „Undine“ – sind sowohl verdiente Autorenfilmer vertreten, vom Koreaner Hong Sangsoo über die Britin Sally Potter bis zur US-Amerikanerin Kelly Reichardt, als auch jüngere Filmemacher wie Reichardts Landsfrau Eliza Hittman.
Berlin im Wettbewerb
Ein roter Faden im Wettbewerb wird ein „düsterer“ Blick auf den Menschen sein. Komödien sind unter den Bären-Anwärtern diesmal mithin nicht zu erwarten. Daraus Schlüsse für bestimmte Vorlieben bei der künstlerischen Leitung zu ziehen, wäre verfrüht. Auch dass das Hollywoodkino im engeren Sinn fehlt, sollte man nicht überbewerten. Zumal es sich bei Hittmans „Never Rarely Sometimes Always“ um eine Universal-Studioproduktion handelt, wenngleich eine, so die Ankündigung, hollywooduntypische. Dafür läuft in der Sektion „Berlinale Special“ der Pixar-Animationsfilm „Onward“.
Zusätzlich zum Wettbewerb gibt es mit der neuen Reihe „Encounters“ noch eine Art zusätzlichen Independent-Wettbewerb. Hier kann man dem Altmeister Alexander Kluge genauso begegnen wie der erkundungsfreudigen jungen US-Amerikanerin Josephine Decker. Neue Formen des Filmemachens sollen erkundet werden, womit die Sektion ästhetisch in die Nähe des Forums rückt.
Letzteres wird seit dieser Ausgabe von der langjährigen taz-Filmredakteurin Cristina Nord geleitet. Sie will sich unter anderem dafür einsetzen, mit Film „Differenz zu vermitteln“. Zusätzlich zu den aktuellen Beiträgen unter anderem vom Rumänen Radu Jude und dem Iraner Nader Saeivar steht mit dem „Forum 50“ ein Jubiläumsprogramm an.
Gezeigt werden die Filme der ersten Ausgabe von 1971, darunter Dušan Makavejevs Hommage an den Psychoanalytiker Wilhelm Reich „W. R. – Mysteries of the Organism“, Sergio Cittis von Pier Paolo Pasolini produzierte Komödie „Ostia“ und Rosa von Praunheims „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“.
Die Berlinale und ihre NS-Vorgeschichte
Die Berlinale hatte in den vergangenen Wochen schon für Gesprächsstoff gesorgt. Dabei ging es weniger um Filme als um Personen. Zunächst war da die Empörung in den sozialen Medien über den Jurypräsidenten. Jeremy Irons, der in diesem Jahr an erster Stelle bei der Vergabe der Bären mitreden wird, ist in der Vergangenheit mit kontroversen Äußerungen aufgefallen (siehe taz vom 14. 1.). Die Aufregung über seine Ernennung hat sich inzwischen wieder gelegt. Doch nicht ausgeschlossen, dass da noch etwas kommen wird. Auch von Irons.
Berlinale: 20. 2. bis 1. 3., www.berlinale.de
Für größere Aufregung sorgte die Zeit mit einem Artikel über die Nazivergangenheit des ersten Berlinale-Leiters Alfred Bauer. Dieser war Mitglied in NS-Organisationen wie der SA gewesen und hatte in der Reichsfilmintendanz gearbeitet, sich nach dem Zweiten Weltkrieg aber als Widerstandskämpfer stilisiert und seine NS-Karriere vertuscht.
Für ihre 70. Ausgabe hatte die Berlinale eine Biografie zu Bauer in Auftrag gegeben, die während des Festivals vorgestellt werden sollte. Darin benutzte der Autor Rolf Aurich zum Teil dieselben Quellen wie die in der Zeit genannten, interpretierte diese aber anscheinend weit zurückhaltender.
Die Erfolgsgeschichte der Berlinale reflektieren
Die Berlinale hat darauf die Veröffentlichung zurückgezogen und eine überarbeitete Fassung angekündigt. Vor allem aber hat sie den „Silberner Bär (Alfred-Bauer-Preis)“ ausgesetzt. Es steht zu erwarten, dass die seit 1987 vergebene Auszeichnung für einen Film, der „neue Perspektiven der Filmkunst“ eröffnet, in Zukunft, wenn überhaupt, im Namen einer unbelasteten Person vergeben wird.
Dass die Berlinale jetzt gezwungen ist, ihre Anfangsgeschichte sehr gründlich zu erforschen, ist kein Makel, der der neuen Spitze anzulasten wäre. Sie ist vielmehr umso stärker aufgefordert zu reflektieren, wie die Erfolgsgeschichte der Berlinale seit 1951, die zu großen Teilen auf das Engagement Bauers zurückgeht, sich mit dessen brauner Vorgeschichte verbindet. Bisher hatte es schließlich niemand für nötig befunden, sich dieser Anfänge eingehender zu erinnern.
Eine Retrospektive, die sich kritisch mit dem Filmschaffen im Nationalsozialismus auseinandersetzt, wäre eine Möglichkeit, sich filmhistorisch im Festivalprogramm dazu zu verhalten. Das wäre allemal ein Neuanfang.
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