Anerkennung von vergessenen NS-Opfern: Zwangsumsiedlung ins Familien-KZ

„Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ werden bislang nicht offiziell als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt. Das soll sich ändern.

Die Bremer Wohnsiedlung am Warturmer Platz

Die Bremer Siedlung am Warturmer Platz wurde von den Nazis als Familien-KZ für „Asoziale“ geplant Foto: Schmidt/Staatsarchiv Bremen 1965

BREMEN taz | Der Saal der historischen Bremer Villa Ichon ist an diesem Montagabend voll. Im Nebenzimmer wird mit Stühlen angebaut. Die Aufmerksamkeit gehört jenen, die sie sonst selten bekommen – zwei lange vergessene Opfergruppen des NS-Regimes sollen ihre Anerkennung bekommen. In den Köpfen der Menschen und ganz offiziell auf Bundesebene: Die als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ Stigmatisierten sollen in die offizielle Erinnerungskultur aufgenommen werden. Darüber will im Februar der Bundestag entscheiden.

Rund 70.000 Menschen gehörten diesen beiden Opfergruppen an, etwa ein Drittel starb in Konzentrationslagern.­ Sie wurden „durch Arbeit vernichtet“.­ Es waren vor allem Mittel- und Obdachlose, Alkoholkranke und Kleinkriminelle, die in den Augen der Nazis als „Schmarotzer“ und „Ballastexistenzen“­ galten. Ihre Gene sollten aus der arisch-deutschen Gesellschaft gesäubert werden.

Bremen nahm eine bedeutende Rolle in dieser „Gesellschaftssäuberung“ ein. Die Stadt investierte 1936 allein 600.000 Reichsmark in das Familien-KZ Hashude im Stadtteil Woltmershausen. Der Posten im Bremer Haushalt für Wohnungsbau lag im selben Jahr bei nur 350.000 Mark. Das Geld für den Bau der Siedlung war größtenteils durch den Wegfall von Fürsorge von sozial schwachen Familien eingespart worden, die als „Asoziale“ nach Hashude zwangsumgesiedelt wurden: Rund 500 Menschen, die auf engem Raum lebten, jede Familie hatte rund 40 Quadratmeter zur Verfügung, jeder Winkel des Geländes wurde permanent überwacht, und bei ungünstiger erbbiologischer Prognose wurden BremerInnen zwangssterilisiert.

Doch das Leid der Opfer endete nicht mit dem Ende des Kriegs 1945. „Bis heute liegt ein gefährliches Stigma auf diesen Menschen.“ Der emeritierte Professor für Politische Bildung Frank Nonnenmacher ist zu Gast in der Villa Ichon und weiß, wovon er spricht. Er ist der Neffe eines Häftlings, der vier Jahre lang im Konzentrationslager war und überlebte. Der Winkel auf der Sträflingskleidung seines Onkels war zuerst schwarz für „Asoziale“, später wurde er „umgewinkelt“ zu einem „Berufsverbrecher“ mit grünem Winkel. Er war zuvor für zweieinhalb Jahre in einer „regulären“ Strafanstalt gewesen, um seine Haftstrafe nach einem versuchten Diebstahl in einer Bäckerei abzusitzen. Nach abgesessener Strafe kam er allerdings nicht frei, sondern wurde von der Gestapo in das KZ Flossenbürg gebracht.

Das Stigma blieb

Menschen wie er wurden aufgrund ihrer Winkelfarbe als „Asoziale“ oder „Berufsverbrecher“ oft von anderen Häftlingen diskriminiert und ausgegrenzt. „Auf ihnen lastete der Vorwurf, dass sie durch ihren kritikwürdigen Lebensstil 'zu Recht’ im KZ seien“, erzählt Nonnenmacher. Ein Vorwurf, der auch nach dem Krieg weiterhin in der Luft schwebe. Weder „Asoziale“ noch „Berufsverbrecher“ gründeten Opfergruppen, sie verlangten keine Entschädigungen oder traten öffentlich auf. „Sie hatten die Vorwürfe verinnerlicht und schämten sich, als 'echter Verbrecher’ im KZ gewesen zu sein“, so Nonnenmacher. Sein Onkel habe erst nach 30 Jahren zum ersten Mal über seine Erfahrungen während des Zweiten Weltkriegs gesprochen.

2016 initiierte Nonnenmacher nach langer Recherche eine Petition, in der er den Bundestag dazu aufforderte, „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ als Opfer des Nationalsozialismus anzuerkennen. Bis heute haben den Appell über 22.000 Menschen unterschrieben.

Zu den ErstunterzeichnerInnen gehört auch die Bremer Bundestagsabgeordnete Kirsten Kappert-Gonther (Grüne). Sie erläuterte am Montag den Antrag der Grünen zu dem Thema – einer von aktuell vier konkurrierenden Parteianträgen, mit denselben Forderungen an den Bundestag: „Die Aufnahme der sogenannten ‚Asozialen‘ und ‚Berufsverbrecher‘ in die offizielle Erinnerungskultur“. Sie habe mit anderen Parteien einen gemeinsamen Antrag einreichen wollen, so Kappert-Gonther, doch aus konservativen Reihen hätte es Widerstand gegeben und den Zweifel, ob man damit nicht auch Schwerverbrecher rehabilitieren würde.

Dieser Gedanke spiegelte sich auch in einer anderen Debatte: Der Stolperstein-Künstler Gunter Demnig sollte 2016 die ersten Stolpersteine zum Gedenken an „Asoziale“ verlegen. In manchen Fällen benutzte er bei „Asozial“ keine Anführungszeichen. Ein fataler Fehler sei das, merkte eine Angehörige am Montag an. Damit würden die Opfer weiterhin gedemütigt und ihre Deportation gerechtfertigt. „Niemand war zu Recht im Konzentrationslager“, sagt Kappert-Gonther. „Hinter diesen Satz gehört ein Punkt und kein Aber.“

Im Februar soll nun in einer Plenarsitzung über den letzten Antrag von SPD und CDU/CSU entschieden werden, in ihm spielen auch Entschädigungen eine Rolle. Doch um Geld geht es nicht. Frank Nonnenmacher betont, dass die vieldiskutierte materielle Entschädigung dieser Opfer des Nationalsozialismus überflüssig sei: Die meisten sind bereits tot und das lebenslange Schamgefühl und der soziale Ausschluss dieser­ Menschen lasse sich mit nichts „entschädigen“, so Nonnenmacher.

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