piwik no script img

2050 – Eine weibliche UtopieVerlieb dich nicht in die Macht

Nach der klimatischen Unumkehrbarkeit existiert die alte Ordnung nicht mehr. Eine Skizze der postfeministischen Revolution.

Was, wenn wir statt auf Kategorien in unsere reinen Seelen schauen könnten? Foto: Ronald Stiefelhagen/NiS

Der Kapitalismus konnte uns schon seit Jahrzehnten nichts mehr geben. Also pflanzten wir an. Als Grundversorgung für die Kommune, im ersten Frühjahr und aufgrund ihrer Haltbarkeit, zunächst deutsche Klassiker: Kartoffeln und Kohl. Gleich danach Medizinalpflanzen: Salbei (Halsschmerzen), Johanniskraut (Depression), Kamille, Ringelblume und Arnika (Antiseptikum und Antibiotikum) sowie Wermut (entwurmend). Zuletzt sortenreines Gemüse wie Kürbis, Pastinake, Möhren, Zwiebeln. Und Obstbäume: Apfel, Zitronen, Feigen. Keine Hybride.

Nach getaner Arbeit schloss ich mich oft einer Gruppe Surfer* auf einem der reißenden Rhein-Nebenflüsse an. Ab und an gesellte ich mich zu unserer Imaginationsgruppe, in der wir zuletzt Schneearten reenacteten. Abends arbeiteten wir an der Gleichstellung unserer Affekte: brüllen, weinen, lachen im kollektiven Takt. Ich mochte es, nicht mehr so viel über meine Gefühle nachzudenken. Auch andere Konflikte hatten wir ausgeräumt: Wir waren Postnahostkonflikt. Posteffizienz. Postkanon.

Die perfekte Welle

Menstruations-Kojen – kleine Wärmezelte mit Massagestationen – liebkosten unseren Unterleib. Everyone’s just in for good people, and good waves. (Wir wollten alle nur Liebe und die perfekte Welle.) Auf unseren Bannern prangte ein silbernes Windrad auf dunkelgrünem Grund – rund, fluide und phallusfrei wie wir.

Es war naiv, nicht ans Vagabundieren zu glauben. Seit der Klimatischen Unumkehrbarkeit um 2030, Stunde X oder: die Unendliche Desillusion, begann die Große Erzählung der Menschheit. Wir wussten, dass jede noch so linke oder liberale Utopie, jeder Freiheitsgewinn der letzten hundert Jahre, unter den Vorzeichen einer Neuerzählung stand. Die Natur rächte sich am menschlichen Geist dafür, dass er ihr seine Vorstellungen aufgezwungen hatte. Die Menschheitsgeschichte war die der menschlichen Domestizierung durch die Natur und nicht umgekehrt.

Top oder bottom?“, fragte mich T. beim Morgenlauf. * sah müde aus. Im Zuge des Community-Austauschs „Help me, hurt me, love me“ ( Hilf mir, beiß mich, lieb mich) hatte T. uns am Vortag von dem schwedischen Hafen Malmö erreicht. Wir fanden uns gleich anziehend und versicherten uns, am nächsten Abend miteinander schlafen zu wollen. „Die Frage oben oder unten“, so schnaufte ich verlegen, „ist jetzt nicht lösbar. Im intimen Raum schreiben wir unser Skript Herzschlag für Herzschlag neu.“

Wir hatten uns entschieden, der Großen Erzählung mit homogener Diversität zu begegnen. Wir versuchten uns daran, unsere Community, bis dato in Zaum gehalten durch Großstadtfixierung, zu verdörflichen. Ich betrachtete das als wohlgeordnete Expansion. Frei nach dem Dichter Fred Moten: Wir können nicht leugnen, dass die Mehrheit einen Zufluchtsort markiert, und nicht akzeptieren, dass sie ein Ort der Aufklärung ist. Drei Grundregeln für unser Miteinander: Verlieb dich nicht in die Macht, denke nicht negativ, mach dir keine Utopie zu eigen. Was, wenn wir statt auf Kategorien in unsere reinen Seelen schauen könnten?

Uns unterbrach ein chorisches Pfeifen von „Go West“. Ich führte T., * dabei kaum am Arm streifend, zum Anti-Identitäts-Warm-up. „Sorry, dass ich dich einfach so berührt habe“, flüsterte ich T. beschämt ins Ohr. „Daddy, ich will, dass du mir hier auflauerst, mit einem Strap-on gewaltvoll in mich eindringst und mir dabei das Gefühl gibst, dass ich das Gefäß bin, ohne das deine Sehnsucht nach Dominanz nie real geworden wäre“, erwiderte T.

Ich hielt inne, Schweiß auf der Oberlippe, Blick in der Schlacke. „T., was du forderst, existiert nicht. Die post-feministische Revolution ist nicht hierarchisch!“ „Ist doch alles okay, solange es abgesprochen und instabil ist. Fühlt sich die Frage nach Konsens für dich etwa kompliziert an?“ Ich war völlig konsterniert.

Nackt und unkompostierbar

An Intimität auf Augenhöhe war jedenfalls nicht mehr zu denken und ich hätte T.s Ausbruch eines Tages vielleicht aus meinen Fantasien bannen können, wenn nicht am siebten Tag unseres Figurinen-Festivals Folgendes passierte: T. setzte die Schaufel auf den Rasen, gab ihr einen kleinen Stoß, noch einen und noch einen und stieß auf Widerstand.

Es hätte die Pflanzung eines Baums werden sollen, aber alles, was T. aus der Erde holte, ohne Wurzel oder Myzelien, nackt, viereckig und ungewohnt unkompostierbar, ja, geradezu von seltenem anorganischem Wert, war eine rote Box mit der Aufschrift: too long; didn’t read. Ich war erregt. Fast hätte ich T. umgestoßen, beiseite gerammt, jedenfalls war ich in meiner Aufregung viel zu heftig gewesen, die Schachtel fiel zu Boden und da lag’s. Weiß wie der Schnee bei Universal Pictures.

Auf unseren Bannern prangte ein silbernes Windrad auf dunkelgrünem Grund – rund, fluide und phallusfrei wie wir

Im Zentrum: ein handgeschriebener Brief, etwa vier DIN-A4-Seiten lang, die Buchstaben leicht kursiv, wenig geschwungen, kaum gesetzt. Das Fehlen einer Triggerwarnung vor Texten bekam uns nicht. „Ich fühle mich entmündigt“, sagte ich empört in die Runde. Eifriges Nicken. F. schaute kurz nach unten und wendete sich uns zu: „Welche Sprache ist das?“ Ich linste auf den Brief. „Deutsch“. Seit Gründung unserer Gemeinschaft sprachen wir Englisch miteinander. Alle anderen Sprachen verwaisten in mündlicher Form und kehrten als reine Schriftsprachen zurück. Wir nannten das Neo-Latinisierung. Ich war * einzige, * Deutsch lesen konnte. T. schaute mich an: „Lies!“

Ich dachte an die Zeit vor der Großen Erzählung. Ich dachte an Jahreszeiten, die unendlich breite Gegenwart. Ich dachte an die Zukunft als nachgelagerte*r Protagonist*in und begriff: Geschichtsschreibung ist niemals nicht selbstgefällig. „Los!“ T. war nervös.

Das männliche Geschlecht zerstören

Ich las laut: „Da das Leben in dieser Gesellschaft bestenfalls langweilig und kein gesellschaftlicher Bereich in irgendeiner Weise für Frauen gemacht ist, bleibt allen gemeinschaftlich orientierten, verantwortlichen und erlebnisgeilen weiblichen Wesen nichts anderes übrig, als die Regierung zu stürzen, das Finanzsystem abzuschaffen, die komplette Automatisierung einzurichten und das männliche Geschlecht zu zerstören.“ T. lachte auf, ich hielt inne. Die anderen schauten betreten zu Boden.

Die Serie

Um die Mitte des Jahrhunderts ist Schluss. Planet und Menschheit haben den Point of no Return erreicht, eine unbewohnbare Erde führt zum Zusammenbruch von Zivilisation und internationaler Ordnung – wenn wir nicht radikal umsteuern. So steht es in dem Bericht, den der australische Thinktank Break­through National Centre for Climate Restoration im Sommer 2019 veröffentlicht hat.

Wir wollen diese Prognose zum Anlass nehmen, im Rahmen einer Reihe darüber nachzudenken, was bis 2050 passieren wird, passieren kann – und was passieren muss, um das Unheil noch abzuwenden.

Wir wollen wissen, wie man sein Leben bis zum Untergang bestreitet, und wir möchten über eine komplexe und potenziell schönere Zukunft der Menschheit nachdenken – eine, die wir voraussichtlich verpassen werden.

Alles, was dann kam war, eine Mischung aus Farm fatale und Theorie-Revue. „Engels sprach 1884 davon, dass sich Frauen in Zwängen befinden, am stärksten in jenen der ökonomisch bestimmten Liebe“, sagte M. mit zittriger Stimme. „Schnee von gestern“, entgegnete C. „Ich hab ja schon immer gesagt: das Weibliche ist ein existenzieller Zustand. Für Mensch wie für die Natur. Ihr Dilemma ist es, sich selbst für das Verlangen anderer zu opfern.“ „Offensichtlich hat die Menschheit die klimatische Unumkehrbarkeit doch produziert, weil sie ihre eigene Vernichtung, also die ultimative Unterwerfung herbeisehnte – meine Meinung“, sagte M. „Jetzt ist kein Raum für Esoterik!“, polterte es aus T.

Ich war wie erstarrt. * Worte kamen mir vor wie Verrat. Die Große Erzählung der Menschheit als die Geschichte menschlicher Degeneration zu fassen, war die eine Sache. Aber unsere Identität zu verstehen als ein Zurückkommen auf eine verworfene Ordnung? Das ging nun wirklich zu weit. T. schaute mich an, klopfte auf * Oberschenkel: 1 x lang, 1 x kurz, 1 x lang. 3 x lang. 2 x lang. Ich wusste: Einer Hand wie deiner würde ich überall hin folgen. Wir liefen los.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

11 Kommentare

 / 
  • Wer die fabrikmäßíge Vernichtung von unzähligen fühlenden Wesen, gar ganzer Arten der Gegenwart, also der Moderne, einordnen will, tut gut daran, wie Erich Fromm ("Sein oder Haben") die Welt aus der Vormoderne zu begreifen.



    "Nach der klimatischen Umumkehrbarkeit..." - der Text startet vielversprechend, will aber bei milden Wetter dann doch nicht so recht zünden. Ich empfehle deshalb einen philosophischen Sprung zu den Debatten des von Rudi Bahro schon 1991 herausgegebenen Buches "Die In-Welt Krise als Ursprung der Weltzerstörung", mit Gastbeiträgen von u.a. H.C. Binswanger, Christian Sigrist und Johann Galtung. Man muss nicht allen Gedankensprüngen folgen, um der Sackgasse der neoliberalen Gegenwart zu entkommen.



    Zu Fromm siehe auch: srv.deutschlandrad...2&audioID=4&state=

  • hedonistische ideologie pur.



    na prost!



    na mahlzeit!

  • Das liest sich so, dass ich eine Zombieapokalypse als wertvolle und willkommene Alternative ansehe.

  • Ach du heiliger Strohsack at night.

    Faß mal zusammen.



    “ Verlieb dich nicht in die Macht“

    Ach was!



    Nö. Macht muß kalt genossen werden •

    So geht das.



    &



    Ende der Durchsage 🗽 🗽 🗽

    unterm—- & den Bemühten der Ebene -



    💤💤💤 & gut is - wa. & Wat is denn daran Utopie? Gellewelle&Wollnichwoll! 😱

  • 8G
    88181 (Profil gelöscht)

    In dieser Welt würde ich untergehen wie ein Stein.

    • 6G
      61321 (Profil gelöscht)
      @88181 (Profil gelöscht):

      .



      dann liegen Sie unten, was den Spaß nicht schmälert und Sie werden dazu noch der Trittstein sein auf dem alle ans andere Ufer kommen

      • 8G
        88181 (Profil gelöscht)
        @61321 (Profil gelöscht):

        Aber ist es denn eine gute Sache, für die ich mich da opfere?

        • 8G
          88181 (Profil gelöscht)
          @88181 (Profil gelöscht):

          Und: Weiß der Postnahostkonflikt, dass er Postnahostkonflikt ist?

          Das wirft die alte Roboterfrage auf:

          Sie wären ein Roboter und ich wüsste das. Sie nicht. Wollten Sie, dass ich es Ihnen sage?

          • 6G
            61321 (Profil gelöscht)
            @88181 (Profil gelöscht):

            .



            Ich weiß auf alle diese Fragen auch keine schlüssige Antworten. Vielleicht tröstet Sie in der Zwischenzeit ein wenig, dass Akam alias Pierre Briece auf Medora auch schon ganz schön herum haderte



            www.youtube.com/watch?v=p-ChD7gkKPw

            • 8G
              88181 (Profil gelöscht)
              @61321 (Profil gelöscht):

              Das ist ja der absolute Knaller. Von dem ich noch nie etwas gehört habe.

              "Auf dem Planeten Medora herrschen die Frauen und führen ein Leben in Luxus, während die männliche Bevölkerung unterworfen ist und Frondienste leisten muss. Der Planet wurde durch eine kosmische Katastrophe aus seinem Sonnensystem herauskatapultiert und zieht seine Bahn durch das All. Die Bevölkerung überlebte in Städten unter der Oberfläche. Diese ist unbewohnbar; Männer, die sich nicht unterordnen, werden zu Strafdiensten nach oben geschickt. "

              Jedenfalls heißen Dank für diesen Tipp.

              Und: Ich glaube, ich würde mich unterordnen.

              • 6G
                61321 (Profil gelöscht)
                @88181 (Profil gelöscht):

                .



                Ich habe damals keine Folge verpasst. Netflix gab es ja nicht. Und sooo abstoßend fand ich die Medorianerinnen damals, mit 13 Jahren und noch kaum einen Flaum auf der Oberlippe, nun wirklich auch nicht