Die erste Konsumgenossenschaft: Alles anders gemacht
Vor 175 Jahren gründeten britische Handweber die erste Konsumgenossenschaft. Über Hamburg gelangte die Idee nach Deutschland.
Am Anfang hatten sie nur Mehl, Zucker, Butter und Hafergrütze im Angebot. Dabei ging es ihnen vor allem um gute Qualität. Fälschung und Betrug waren im Lebensmittelhandel des 19. Jahrhunderts gang und gäbe. „Von den Rochdale-Pionieren haben alle Genossenschaftsformen gelernt“, sagt Peter, der im Genossenschaftsmuseum im Hamburger Besenbinderhof arbeitet und seine Erfahrungen mit den Konsumgenossenschaften literarisch in „Gemeinwirtschaft. Der Roman vom Soll und Ist“ verarbeitet hat.
Von Hamburg aus verbreitete sich dann die Genossenschaftsbewegung in Deutschland. Den Anstoß gab der Streik von Hafenarbeitern und Seeleuten zum Jahreswechsel 1896/97. Elf Wochen lang bestreikten bis zu 17.000 Proleten den Hamburger Hafen. Gewerkschaftliche Streikfonds gab es im Kaiserreich nicht, der Hunger grassierte in den Arbeiterfamilien.
Es entstand die Idee, den Arbeitern und ihren Familien mit einer Konsumgenossenschaft zu helfen: 700 Teilnehmer zählte die Gründerversammlung. Der Konsum-, Bau- und Sparverein Produktion entwickelte sich rasant: In Hamburg und den Nachbarorten entstanden Hunderte Läden. Auch in Berlin, Hannover, Frankfurt und anderen Städten wurden bald erste Konsumgenossenschaften gegründet.
Vorbildliche Arbeitsbedingungen
Später entstanden unter anderem die Arbeiterwohlfahrt und die Versicherungsgesellschaft Volksfürsorge (heute Generali). Und bald wurden in den Läden eigene Produkte angeboten: Brötchen, Fahrräder und Zigarren. Während der Weimarer Republik unterhielt der Dachverband, die Großeinkaufs-Gesellschaft Deutscher Consumvereine (GEG) in Hamburg, deutschlandweit über 50 große Produktionsbetriebe.
Die Arbeitsbedingungen galten als vorbildlich, modernste Maschinen ermöglichten produktive Arbeit. „Käufer und Verkäufer sind eins!“, lautete das Motto. Das zwischenzeitliche Aus des gemeinnützigen Großkonzerns GEG wurde 1933 eingeläutet. Die „Zerschlagungswut der Nazis“, sagt Peter, machte auch vor den Konsumgenossenschaften nicht halt.
Die sowjetische Militäradministration ließ die Konsumgenossenschaften schon wenige Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wieder zu. Bereits Mitte 1946 gab es in Ostdeutschland wieder ein komplettes Netz an Genossenschaften. Im Westen verlief der Neubeginn zäher. Den Besatzungsmächten waren Genossenschaften eher fremd oder sie wurden, wie bei den Briten, als sozialistische Einrichtung eher kritisch beäugt. Der Ernährungskrise begegnete die neue GEG mit einer eigenen Fischfangflotte und einer Fischwarenfabrik in Altona.
Doch der ersten Selbstbedienungsläden, später dann von Discountern wie Aldi, verschärften in den 1960er-Jahren die Konkurrenz. „Für die zwei Millionen Konsumgenossen wird später die Eigenproduktion zum Klotz am Bein“, so Peter. Die unterbliebenen Investitionen während der Nazi-Zeit rächten sich jetzt. Und die Banken misstrauten der ohnehin ungeliebten GEG-Kundschaft.
In den 1970er-Jahren fusionierten viele Konsumgenossenschaften. Sie änderten ihre Rechtsform und mutierten zu einer Aktiengesellschaft (AG), um an frisches Kapital zu kommen. Die Experten im Hamburger Genossenschaftsmuseum am Besenbinderhof schimpfen noch heute über den „Irrweg Aktiengesellschaft“ – aus einer schwachen Genossenschaft wurde keine starke AG und die Mitglieder wurden ihrer Genossenschaft entfremdet.
Die Coop AG, bei der Armin Peter Direktor für Öffentlichkeitsarbeit war, in der die meisten westdeutschen Konsumgenossenschaften aufgegangen waren, endete denn auch im Desaster. Trotz 50.000 Beschäftigter und Umsatz von mehr als zehn Milliarden DM wurde Coop 1989 liquidiert. Der Vorstand um Bernd Otto hatte in einem undurchschaubaren Mix aus Gier, Bilanzbetrug und Dummheit den Konsumgenossenschaften den Todesstoß versetzt. Otto wurde später zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt.
Sehnsucht nach Idylle
Doch die Genossenschaftsidee wirkte weiter. Und blieb nicht frei von (linker) Kritik. Dezentral, so lautete die genossenschaftliche Parole. „Dieser Populismus träumt von einer mittelständischen, auch genossenschaftlichen Wirtschaft“, kritisierte der 2016 verstorbene Buchholzer Ökonom Herbert Schui gerne. Dahinter stehe die Sehnsucht nach einer Idylle, so Schui, in der es keine machtvollen Großunternehmen und keine bedrohliche Globalisierung gibt.
Armin Peter verweist auf Dutzende Neugründungen: alternative Wohnformen, Energie, Soziales, Landwirtschaft und Dorfversorger. Der Trend zeige weiter nach oben. Derzeit sind bundesweit 433 neue und alte Genossenschaften mit insgesamt mehr als 300.000 Einzelmitgliedern im Zentralverband deutscher Konsumgenossenschaften (ZdK) zusammengeschlossen. Der ZdK vertritt die Interessen der GenossInnen gegenüber Politik und Bundesregierung. Sitz des Verbandes ist der Hamburger Stadtteil St. Georg. Prominentes Mitglied des Unternehmensverbandes ist die taz Verlagsgenossenschaft in Berlin.
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