Unterdrückung der Uiguren: Lektion China lieben lernen
Chinas repressiver Umgang mit Minderheiten hat Tradition. Die Situation der Uiguren zeigt: Es ist höchste Zeit, dagegen etwas zu tun.
Weil Nachbarn, Polizisten oder die Lehrer damit überfordert sind, den vielen uigurischen Kindern in der chinesischen Grenzregion Xinjiang vernünftig zu antworten, geben Chinas Behörden den Erwachsenen Argumentationshilfen an die Hand.
Sie sollen sagen: Kein Grund zur Sorge, die Eltern seien zur „Fortbildung“ unterwegs. Die Regierung helfe ihnen dabei, sich vor dem „Virus“ des religiösen Extremismus und vor terroristischem Gedankengut zu schützen. Die Kinder selbst sollten sich ruhig verhalten, denn damit täten sie sich und ihren Eltern den größten Gefallen.
Diese Argumentationshilfe findet sich in einem Packen interner Dokumente, die die New York Times und das Netzwerk investigativer Journalisten jüngst zugespielt bekamen.
China verharmlost Lager als „Berufsbildungszentren“
Sie bestätigt, was die Pekinger Regierung bis vor Kurzem stets geleugnet hat: In den vergangenen drei Jahren sind Hunderttausende – wahrscheinlich weit über eine Million – Uiguren, Kasachen und Angehörige anderer muslimischer Volksgruppen in den offiziell „Berufsbildungs- und Trainingszentren“ genannten Lagern in Chinas nordwestlicher Region Xinjiang eingesperrt worden. Das ist rund ein Zehntel der gesamten uigurischen Bevölkerung.
In diesen „Zentren“ sollen sie die Liebe zu China und seiner Regierung, zur Han-chinesischen Kultur erlernen – und vor allem Disziplin. Und sie sollen unerwünschte Gewohnheiten ablegen, also etwa die, zu viel im Koran zu lesen, zu viel zu beten, sich zu lange Bärte wachsen zu lassen und sich zu stark zu verschleiern.
Pekings Politiker streiten die Existenz der Internierungslager inzwischen nicht mehr ab, weisen aber jede Kritik daran als „Einmischung in interne Angelegenheiten Chinas“ zurück. Und sie argumentieren mit dem Kampf gegen den Terrorismus. In den letzten Jahren hätten Extremisten „Tausende“ von Anschlägen verübt.
Das „Verschwindenlassen“, das Verschleppen und Festhalten ohne rechtliche Grundlage ist in China nichts Ungewöhnliches. Die Kommunistische Partei (KP) ist das Gesetz, Polizei, Armee und Geheimdienste sind ihre Erfüllungsgehilfen.
Diese Willkür trifft nicht nur Uiguren, sondern Angehörige aller Volksgruppen, etwa der Tibeter. Aber auch Han-Chinesen sind Opfer. Die Erfahrung der vergangenen Jahrzehnte zeigt – und das weiß jeder in China: Niemand ist sicher.
Rechtsanwälte, Lehrer, Künstler, Blogger, Journalisten, Gewerkschafter, Wissenschaftler, Christen, Angehörige von Sekten, Nonnen, Geschäftsleute sind ebenso wie Parteifunktionäre in sogenannten schwarzen Gefängnissen verschwunden – und manche sind nie wieder aufgetaucht.
Auf dem Weg zum totalitären Albtraum
Aber was derzeit in Xinjiang geschieht, ist ein weiterer Schritt auf dem Weg in einen totalitären Albtraum. Auch wenn sich innerhalb der Verwaltung Unmut regt, wie die Tatsache beweist, dass die internen Unterlagen an die Öffentlichkeit gelangen konnten: Es gibt derzeit offenkundig niemanden, der die Masseninhaftierungen stoppen kann oder will.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk, im praktischen Wochenendabo und bei Facebook und Twitter.
Wer nur halbwegs bei politischem Verstand ist, muss sich fragen, wie es sein kann, dass die Politiker in Peking und ihre Statthalter in Urumqi ernsthaft glauben können, etwas anderes als heillose Wut, tiefe Kränkung und heftige Aggressionen in einer wichtigen Region ihres Landes zu ernten, wenn sie uigurische Frauen und Männer, Alte und Junge, hinter Stacheldraht sperren?
Wenn sie „Ich liebe China“ in chinesischen Schriftzeichen und rote Papierherzchen über deren Pritschen kleben lassen? Wenn sie die Insassen zwingen, für das Fernsehen traditionelle Tänze vorzuführen? Wenn ihnen erklärt wird, sie sollten sich vom ihrem Glauben und ihren Sitten distanzieren und stattdessen ihre Verehrung für die Partei samt ihrem Vorsitzenden zu erklären. Wenn sie unterdessen Han-chinesische Nachbarn und Funktionäre in die Wohnungen von Uiguren schicken, damit diese über deren Bücher und Bilder, Schränke und Betten Bericht erstatten?
Die Antwort: Es ist ihnen völlig egal. Die Generation, die heute an der Macht ist, hat ihre Jugend in der Kulturrevolution der sechziger und siebziger Jahre erlebt, als Denunziationen, Folter und Massenkampagnen an der Tagesordnung waren. Xinjiang war ein Ort der Verbannung – wie für den Vater des Künstlers Ai Weiwei, den Dichter Ai Qing.
Peking schickte Siedler und Soldaten aus Zentralchina bereits in den 50er Jahren in die Wüsten und Täler Xinjiangs, um mit dem militärisch geführten „Produktions- und Aufbaucorps“ Neuland zu gewinnen und zugleich widerstrebende Uiguren zu befrieden.
Gedämpfter Optimismus nach der Kulturrevolution
In meiner Zeit in China habe ich Xinjiang öfter besucht: zuerst 1980, als ich bei einer uigurischen Studentin in Urumqi zu einer Hochzeitsfeier in der Familie eingeladen war. Damals war Mao Zedong erst wenige Jahre tot und die Kulturrevolution erst seit Kurzem vorbei. Niemand wurde mehr gezwungen, sich die Haare abzuschneiden, Schweinefleisch zu essen oder sich vor Mao-Porträts zu verneigen. Die ersten Moscheen durften wieder öffnen, auf den Märkten gab es Melonen, Rosinen und Nüsse zu kaufen.
Die Stadt war arm, Hochhäuser ragten noch nicht in den Himmel, in den Straßen sah ich Frauen in bunten Kleidern – aber keine trug Hidschab oder Schleier.
Han-chinesische Nachbarn waren nicht zum Fest geladen. Beide Volksgruppen lebten nebeneinanderher. Die Stimmung war gedämpft optimistisch: In Peking waren in den 80er Jahren liberalere Parteifunktionäre – darunter der Vater des heutigen KP-Chefs Xi – an der Macht, die sich für einen respektvollen Umgang mit den ethnischen Minderheiten starkmachten.
Zwanzig Jahre später war es aus mit dem Optimismus. So kam es am 5. Juli 2009 zu blutigen Auseinandersetzungen, bei denen Uiguren plötzlich mit Macheten und Messern auf Han-Chinesen losgingen. Tags darauf rächten sich Han-Chinesen an den Uiguren, 200 Menschen starben an diesen Tagen. Die meisten von ihnen waren Han-chinesische Migranten, die inzwischen die Mehrheit der Bevölkerung von Urumqi stellten.
Die Stadt hatte sich ungeheuer gewandelt: breite Straßen, Hochhäuser, Shoppingcenter, allgegenwärtige Polizeikontrollen – und viele stark verschleierte Frauen. Die Atmosphäre aus wechselseitigem Misstrauen und Angst vor neuen Attacken war mit Händen zu greifen.
Han-Chinesen dominieren heute Urumqui
Damals war ich China-Korrespondentin und sprach vor Ort mit einer jungen Uigurin, voll verschleiert in einem knallgelben Tuch. Ihr ehemaliger chinesischer Chef hatte ihr verboten, sich so zu kleiden. Sie hatte deshalb den guten Verwaltungsjob aufgegeben und arbeitete nun in einem kleinen Telefonladen. Sie war zornig und hatte Angst.
Abends saß eine Gruppe gut gekleideter Männer über Schaschlik in einem Gartenlokal. Sie seien Händler, berichteten sie – allerdings hätten sie ihre Reisepässe abgeben müssen, weil die Behörden nicht wollten, dass Uiguren nach Pakistan oder anderswo in Zentralasien reisten. Jetzt hätten ihre Han-chinesischen Konkurrenten die Geschäfte übernommen; die konnten problemlos reisen.
Seither hat sich die Situation noch verschärft. Politiker wie der heutige KP-Chef Xi Jinping sind mit der Überzeugung aufgewachsen, dass politisch nur überlebt, wer stärker und härter ist als die anderen. Und sie glauben fest, Han-Chinesen mit ihrer angeblich 5.000-jährigen Geschichte seien anderen Volksgruppen intellektuell und kulturell überlegen. Deshalb müssten sie die vermeintlich rückständigen Ethnien erziehen und disziplinieren.
Diese zutiefst paternalistische Sicht auf Minderheiten ist im offiziellen Geschichtsbild, in Museen, Filmen und im Alltag verbreitet. Die Parteiführung hat sich offenbar so sehr in ihrer politischen Paranoia verfangen, dass es ihr egal ist, wenn auch Hongkonger und Taiwaner mit Schaudern auf Xinjiang starren.
Was die Lage der Uiguren noch verzweifelter macht: Sie haben unter der Mehrheit der Bevölkerung Chinas keinen Rückhalt. Ernsthafte Debatten in der Öffentlichkeit über die Frage, wie die Han-chinesische Mehrheitsgesellschaft (über 90 Prozent) mit ihren ethnischen Minderheiten umgehen sollte, sind tabu. Es gibt keine allgemeine Verständigung darüber, wie Konflikte um Land, um Geschäfte, um Posten und Jobs fair gelöst werden könnten, damit das Zusammenleben besser klappt.
Xinjiang ist eine riesige, rohstoffreiche Region – doch die wichtigen Industrien und Ämter sind in der Hand der Han-chinesisch dominierten KP. Deren Chef ist mächtiger als jeder Gouverneur.
Uigurische Intellektuelle, die solche Debatten führen und Auswege suchen wollten, sitzen heute wegen „Separatismus“ im Gefängnis, wie etwa der Wirtschaftsprofessor Ilham Tohti.
Auf der anderen Seite haben sich nur wenige Han-Chinesen – eine Ausnahme ist der Schriftsteller Wang Lixiong – ernsthaft für die Geschichte Xinjiangs und das Leben der Uiguren interessiert.
Die Regierung setzt auf totale Einschüchterung
Die Regierung setzt, und das nicht erst in den letzten Jahren, auf totale Einschüchterung. Manche Uiguren reagieren, indem sie sich in eine konservativere oder radikalere islamische Gemeinschaft zurückziehen.
Unter der Devise „Augen und Ohren zu“ und mit der Ausrede „Wandel durch Handel“ entschieden sich die VW-Manager 2011, dem von den chinesischen Behörden forcierten Bau einer Fabrik in Urumqi zuzustimmen. Der Vertrag sieht sogar vor, mit der Bewaffneten Volkspolizei zusammenzuarbeiten, wie die Süddeutsche Zeitung berichtete.
Die VW-Leute nahmen auch hin, dass einer ihrer Manager festgenommen wurde, nachdem eine Grünen-Abgeordnete 2012 kritische Fragen gestellt hatte.
Wie die VW-Leute müssen sich inzwischen auch Siemens- und BASF-Manager, die Werke in Xinjiang haben, fragen lassen, wie sie auf die jüngsten Ereignisse reagieren wollen. Weiterhin wegsehen?
Können sie ihre uigurischen Beschäftigten davor schützen, in diese Lager abtransportiert zu werden? Haben sie es überhaupt je versucht? Wenn nicht, gibt es nur eine Antwort: Die deutschen Firmen müssen raus aus Xinjiang.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen