Antisemitismusdebatte in Deutschland: Platz machen, hinhören
Nach dem Terror von Halle fragt sich Deutschland, wie es den Juden hierzulande geht. Wo ist dieses Interesse an ihnen, wenn nichts passiert?
G erade wird mal wieder nicht nur über die Juden in Deutschland gesprochen, einige von ihnen kommen sogar selbst zu Wort. Wie immer, wenn etwas passiert ist. Sonst aber fehlt ihre Stimme viel zu oft. Dabei wird es, zum Glück, langsam fast normal, dass Frauen, Ostdeutsche, Migranten eine Stimme haben, die auch gehört wird, dass sie den Diskurs zu egal was mitbestimmen.
Juden fragt man nach ihrer Meinung zum Antisemitismus und zu Israel, ganz gleich, ob sie Deutsche, Franzosen, US-Bürger oder tatsächlich Israelis sind (Hauptsache, sie distanzieren sich von Netanjahu und seiner Regierung oder haben sonst etwas Bequemes zu sagen).
Am liebsten aber sind den meisten sowieso die sechs Millionen Juden, die nicht mehr mit eigenen Ansichten ankommen. An die erinnern wir Deutschen uns gern, sie können nichts mehr fordern, fragen, wollen. Gerade weil sie Opfer waren, die man beweinen kann, rühren sie nicht so unangenehm am eigenen Gewissen. Und sie geben uns, den Deutschen, in einem seltsamen historischen Hütchenspiel die – scheinbare! – Legitimation, heute, geläutert und „wieder gut“, zu wissen, was gut für die Juden ist. Linke Ansichten etwa, und natürlich Polizeischutz vor ihren Synagogen, Schulen, Kindergärten.
Teil des Problems ist, dass sich uns nicht der Magen umdreht angesichts der Tatsache, dass es diesen Schutz überhaupt braucht. Und nicht erst das Attentat in Halle hat gezeigt, wie dringend es ihn braucht, erst zwei Tage zuvor hatte ein Mann mit einem Messer versucht, in die Neue Synagoge in Berlin einzudringen. Damit sich das irgendwann ändert, braucht es nicht weniger Polizeischutz, ganz sicher nicht. Aber es braucht auch nicht: Demos, Lichterketten, gemeinsames Kippa-Tragen.
Es braucht Interesse an jüdischen Stimmen, nicht nur, wenn die Gegenwart mal wieder daran erinnert, dass der Antisemitismus noch nie weg war. Dafür braucht es Platz für Juden auf Podien, auf Zeitungsseiten, Sendeplätzen und am besten auch auf der eigenen Wohnzimmercouch.
Nur wer Freund ist, ist kein Fremder mehr. Damit man zu Freunden wird, braucht es – das haben wir mit den Frauen, Ostdeutschen und Migranten ja auch fast kapiert – echte Auseinandersetzung, kein Beschützen, Bestaunen, Bemitleiden.
Unbequemerweise ist das nichts, was man der Politik überhelfen kann. Die muss tatsächlich mehr Schutz gewährleisten. Aber der entbindet keine gesellschaftliche Mehrheit von der lästigen Aufgabe, Platz zu schaffen im Kopf und im Herzen für die Ansichten anderer, oder davon, sich selbst mal nicht so wichtig zu nehmen.
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