Historikerin über Migration: „Sachsen war nicht immer gleich“
Einst war in Sachsen auch der Bayer ein Ausländer, sagt Ira Spieker. Doch Migration gab es immer, gewisse Metaphern sind geblieben.
taz: Frau Spieker, Sie haben mit dem Projekt „Sachsen: weltoffen“ Einwanderungsbewegungen nach Sachsen vom Mittelalter bis zur Gegenwart erforscht. Gibt es Parallelen zwischen damals und heute?
Ira Spieker: Wir haben festgestellt, dass Wanderung, Migration und Mobilität in Sachsen Grundkonstanten sind und keine neuen Phänomene. Die hat es schon immer gegeben und wird es auch immer geben. Die Motive zur Migration sind recht ähnlich, ebenso wie Reaktionen auf Migranten.
Welche Reaktionen meinen Sie?
In der aufnehmenden Gesellschaft gab es immer die Erwartung, dass die Ankommenden zum Wohlstand beitragen müssen oder benötigte Fähigkeiten und Kenntnisse mitbringen. Auch die Befürchtungen, dass durch die „Ausländer“ knappe Ressourcen noch knapper werden könnten und dadurch der Verteilungskampf größer wird, sind nicht neu. Die Menschen haben ebenso eine Überlagerung von kulturellen und religiösen Werten gefürchtet. Sachsen hat im 17. Jahrhundert beispielsweise viele sogenannte Glaubensflüchtlinge aufgenommen. Das ging einher mit der Sorge vor einer konfessionellen Krise.
Und wer galt im 19. Jahrhundert als „Ausländer*in“?
Alle Menschen, die außerhalb der Grenzen des Königreichs Sachsen lebten, das heißt auch diejenigen aus Preußen oder Bayern. Grenzen haben sich aber immer wieder verschoben durch Kriege und Gebietsverluste. „Sachsen“ ist nicht immer gleich gewesen. Von daher kann auch nicht von einer festen sächsischen Identität gesprochen werden. In den letzten tausend Jahren, in denen Menschen hier gelebt haben, hätten sie sich wahrscheinlich immer nach anderen Merkmalen zugeordnet.
ist Leiterin des Bereichs Volkskunde am Institut für sächsische Geschichte und Volkskunde in Dresden.
Wie waren „Ausländer*innen“ in der sächsischen Gesellschaft damals aufgestellt? Wie viele Ausländer*innen gab es eigentlich?
Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts gab es auf dem Gebiet des heutigen Sachsens einen „Ausländeranteil“ von fünfzehn Prozent. Hundert Jahre später waren es nur noch zwei Prozent.
Woran lag das?
Die Aufnahmepolitik war immer recht liberal, wenn Arbeitskräfte benötigt wurden. Allerdings änderte sich durch Gesetzgebung, wer als „Ausländer“ galt: Das 19. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Nationenbildung. Zunächst ist in Sachsen 1852 ein Staatsangehörigkeitsgesetz erlassen worden. Erst bei der Gründung des Deutschen Reichs 1871 kam es jedoch zu einem einheitlichen Verständnis zwischen Staat und Nation. Wir haben dann zum ersten Mal so etwas wie eine deutsche Identität und klar definierte Einschluss- und Ausschlusskriterien.
Warum sind die Menschen in dieser Zeit nach Sachsen eingewandert?
Im Mittelalter ging es vor allem um Landnahme und Besiedlung, ab dem 17. Jahrhundert vor allem um Schutz vor religiöser Verfolgung und Vertreibung. Im 19. Jahrhundert waren es in erster Linie ökonomische Gründe. Meist begaben sich die Menschen auf den Weg, um der Armut in ihrer Region zu entfliehen und an anderer Stelle nach Arbeit zu suchen.
Sechs Wochen im Osten: Vor der Landtagswahl in Sachsen am 1. September 2019 war die taz in Dresden. Seit dem 22. Juli waren wir mit einer eigenen Redaktion vor Ort. Auch in Brandenburg und Thüringen sind bzw. waren wir vor den Landtagswahlen mit unserem #tazost-Schwerpunkt ganz nah dran – auf taz.de, bei Instagram, Facebook und Periscope. Über ihre neuesten Erlebnisse schreiben und sprechen unsere Journalist*innen im Ostblog und im Ostcast. Begleitend zur Berichterstattung gibt es taz Gespräche in Frankfurt (Oder), Dresden, Wurzen und Grimma. Alle Infos zur taz Ost finden Sie auf taz.de/ost.
Wirtschaftsmigration war also damals ein Teil der Region?
Ja, vor allem in ländlichen Gebieten gab es viel Mobilität. Der Irrglauben, dass ländliche Gesellschaften statisch waren, ist von der Forschung längst widerlegt. Es spielten aber auch religiöse Gründe weiterhin eine Rolle bei den Migrationsbewegungen.
Ähnlich wie mit „Gastarbeiter*innen“ in Deutschland in den 1960er Jahren wurden im 19. Jahrhundert viele Arbeiter*innen aus dem Ausland nach Sachsen abgeworben. Warum?
Das hat mit der sogenannten Leutenot in der Landwirtschaft zu tun. Im Jahr 1832 änderte sich für viele Menschen in Sachsen der rechtliche Status. Sie bekamen ihre persönliche Freiheit und gehörten nicht länger zu einer Grundherrschaft oder einer bestimmten Gutsfamilie. Dadurch konnten sie sich von Dienstleistungen freikaufen und ihr eigenes Land bewirtschaften. Die zunehmende Industrialisierung schuf außerdem vermeintlich attraktivere Arbeitsmöglichkeiten mit besserer Bezahlung. Für Arbeitskräfte war es schlicht nicht mehr lukrativ, weiterhin in der Landwirtschaft zu arbeiten, und es entstand ein Mangel an landwirtschaftlichen Kräften.
Und was hatte es mit der Landflucht auf sich?
In dieser Zeit wanderten viele Menschen vom Land in die Städte. In Sachsen gab es aber nicht so große Ländereien wie beispielsweise in Preußen. Dort benötigten die Großgrundbesitzer sehr viele Arbeitskräfte und beschäftigten mehr Wanderarbeiter. Das Erzgebirge und die Oberlausitz waren arme Regionen mit Haus- und Textilindustrie, die im 19. Jahrhundert große Einbrüche erlitten. Viele Menschen aus Sachsen wollten daher nach Amerika auswandern, zum Teil halbe Dörfer. Ihre Anträge wurden jedoch häufig abgelehnt, weil sie völlig mittellos waren.
Sie haben auch zu Migrationsbewegungen von polnischen Saisonarbeiter*innen nach Sachsen und Preußen im 19. Jahrhundert geforscht. War europaweite Migration schon damals weit verbreitet?
Gerade in der Landwirtschaft wurden zur Ernte und zur Bestellung Arbeitskräfte gesucht, die entsprechend auch gut entlohnt wurden. Das hat die Menschen angezogen. Es wurde beispielsweise aktiv nach Menschen gesucht, die ein umfassendes Wissen über Pflanzen, Ernte und Landbearbeitung hatten. Dafür waren gerade Arbeiter aus dem östlichen Europa, Bulgarien und Rumänien, sehr gefragt. Auch viele polnische und ruthenische Saisonarbeiter kamen ins preußische und sächsische Gebiet.
Wie wurden diese von der lokalen Bevölkerung aufgenommen?
Das hatte stark mit wirtschaftlichen Faktoren zu tun. Damit, ob die Arbeitskräfte gebraucht wurden oder nicht. Wenn die Bevölkerung sich in Krisenzeiten befand, ihre Besitzstände bedroht sah und eine vermeintliche Abstiegsangst umherging, kann man eine ganz ähnliche Argumentation wie heute beobachten. Es gab eine Angst vor Fremden, die den Ansässigen die Arbeit wegnehmen wollen. Dabei wurde von einer „Flut“ oder auch einer „Schwemme“ gesprochen, von einer drohenden „Slawisierung“ und einer „Überfremdung“. Es ist sehr interessant zu beobachten, dass diese Metaphern bis heute konstant gleich geblieben sind.
Gibt es eine direkte Verbindung zwischen der Nationenbildung 1871 und der Feindlichkeit, die gegenüber polnischen Saisonarbeiter*innen gezeigt wurde?
Diese Abgrenzungsprozesse gab es schon früher. Polen, das Nachbarland, war auch schon im 18. und 19. Jahrhundert in der Wahrnehmung durch viele Stereotype geprägt. Auch Einwanderer aus Böhmen, die Arbeit suchten, wurden mit unflätigen Bezeichnungen belegt. Das zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte: Assoziationen mit Ungeziefer, Unsauberkeit, Arbeitsscheu oder einer Bedrohung. Vor allem auf moralisch-ethischer Ebene wurde argumentiert, dass Anderssein gleichgesetzt war mit Minderwertigkeit. Die nationale Zugehörigkeit hat diese Abgrenzung auf eine rechtliche Basis gestellt.
Wenn Sie sich heute den Umgang mit Migrant*innen in Deutschland anschauen, würden Sie sagen, dass sich die Geschichte wiederholt?
Von einer direkten Wiederholung der Geschichte kann keine Rede sein, dafür verändern sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu stark. In der Reaktion auf Krisensituationen, wie dem Kampf um knappe Ressourcen, zeigen sich bestimmte Grundmuster aber immer wieder. Wenn es nicht mehr um eine rationale Bewältigung dieser Krisen, sondern um individuelle Ängste, Emotionen und Befürchtungen geht, sind die Menschen weniger empfänglich für Fakten.
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