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Erfahrungen als AsylbewerberinWarten zwischen den Türen

Unsere Autorin, eine russische Umweltaktivistin, beschreibt ihr Leben voller Ungewissheit in einer Unterkunft für Asylbewerber in Dresden.

Alexandra Korolewa im August in Dresden Foto: Sven Döring/Agentur Focus

Warten – das ist der Normalzustand für die Bewohner des Lagers. Warten auf einen Termin für die Anhörung. Warten auf die Entscheidung der Migrationsbehörde. Das ergreift vollkommen Besitz von einem Menschen. Dem zu entrinnen ist unmöglich, bis zum Ende. Die Zeit ist nicht deine und diese Ungewissheit nimmt dir die Möglichkeit, dein Leben zu planen. Diese Möglichkeit, die zumindest den Anschein erweckt, Kontrolle über das eigene Schicksal zu haben.

Im Prinzip hilft die Hausordnung des Lagers. Auch dort wartest du immer auf irgendetwas, aber das sind Kleinigkeiten. Nach dem Aufwachen warten auf das Frühstück, das um acht Uhr beginnt und um zehn Uhr endet. Genauso pünktlich kommen Mittagessen und Abendbrot. Bis dahin lässt sich die Zeit bei Deutschkursen totschlagen – jeden Tag von zehn bis halb eins. Hast du Glück, schaffst du es für nötige Behandlungen ins Universitätsklinikum. Das Krankenhaus ist weit weg, mit der Straßenbahn eine halbe Stunde. Dann wartest du in der Schlange, mindestens zwei Stunden. So geht der Tag dahin.

Dienstags gibt es ein wenig zusätzliche Zerstreuung: Morgens wird die Bettwäsche gewechselt. Donnerstags wird Taschengeld ausgegeben – irgendwie schön, aber du stehst ab halb zehn in der Schlange – bis zum Mittagessen. Wieder ein halber Tag rum.

Am schlimmsten ist es abends: Bis zum Einschlafen gilt es, sich selbst zu beschäftigen. Kaum, dass es dunkel wird, gehen die Menschen in den Hof. An den heißesten Abenden Mitte Juli bei bis zu 40 Grad, wenn es nicht einmal nach Sonnenuntergang abkühlt, kann man sich der Fantasie hingeben, in Ägypten in einem Dreisternehotel zu sein. Arabisch, laute Stimmen, Musik. Im Hof eine Wasserpfeife. Die stickige Luft ist von süßlichem Rauch erfüllt … Das Rote Meer fehlt. Anfangs schien es mir, dass überall Arabisch gesprochen wird. Tatsächlich aber herrscht ein babylonisches Sprachgewirr. Das habe ich erst verstanden, als ich die Deutschkurse besuchte und in meiner Gruppe Venezolaner, Iraner, türkische Kurden, Vietnamesen, Pakistaner, Armenier und Libanesen entdeckte.

Schlafwandler und Kinder

Die Menschen sortieren sich nach Interessen und Geografie. Wie Schlafwandler stehen in der einzigen Ecke mit einem schwachen WLAN-Signal immer jene, die eine Verbindung suchen. Die Wasserpfeifenraucher, anders als die Signaljäger, machen Lärm – sie sprechen laut, machen Musik an, singen. Wo auch immer du hinschaust, tauchen Trommeln auf. Die Jugendlichen spielen Fußball, die Kinder sind auf Rollschuhen, Rollern und Fahrrädern unterwegs. Sie spielen und sie streiten sich.

Es gibt viele Kinder. Im Speisesaal stellt eine Frau drei Kinderstühle um einen Tisch herum und setzt drei kleine Jungen hinein. Wird alles so, wie die Frau möchte, werden die Kinder wohl niemals ihre Muttersprache sprechen. Im Untersuchungsraum der Krankenschwester hängt ein großes selbst gemachtes Poster mit Fotos von Kleinkindern. Diese Kinder seien hier geboren, erzählt sie stolz. Mein genetisches Gedächtnis, gewachsen in sowjetischer Vergangenheit, erlaubt mir nicht, mich mit ihr zu freuen: Diese Kinder sind im Lager geboren.

Der Schlaf will sowieso nicht kommen. Wach zu liegen, das ist eine Qual

In diesen Tagen habe ich ein Buch und eine Kanne genommen. Der gute Tee in der Küche versiegt nie – und kommt wundersamerweise aus einem Hahn. Dann ging auch ich in den Hof, um zu lesen. Ins Zimmer geht man nur nachts, nach einem Tag in der Sonne, die sehr langsam untergeht. Der Schlaf will sowieso nicht kommen. Wach zu liegen, das ist eine Qual.

Die ersten drei Tage waren am schrecklichsten. Der traurige Scherz meiner Mitbewohnerin wurde Wirklichkeit: „Ich wollte nicht in ein russisches Gefängnis, jetzt bin ich in einem deutschen.“ Wie soll ich erklären, dass die Verzweiflung dieser ersten Tage mich auch jetzt nicht loslassen will?

Die Regeln sind streng und nicht alle kannst du dir sofort merken. Nachdem ich mich mit Plastikmessern abgemüht hatte, kaufte ich am zweiten Tag ein normales Messer und ging damit zum Mittagessen. Die aufmerksamen Wachleute kassierten es gleich ein. Dasselbe hatten sie schon beim Einzug mit meiner Nagelschere versucht, aber ich widersetzte mich. Ein wenig später – ich kränkelte etwas und träumte von heißem Tee, ohne in die Küche gehen zu müssen – kaufte ich einen billigen Wasserkocher. Umsonst. Der Pförtner war die Endstation. Ich würde ihn zurückbekommen, wenn ich auszöge. Zusammen mit dem Messer.

Eingang – Ausgang. Du musst eine spezielle Karte vorzeigen und den Inhalt des Rucksacks. Mit der Zeit gewöhnst du dich daran und verdrängst das. Den Rucksack öffnen, dann Fragen und Witze über den Inhalt. Die Arme abspreizen und dich abtasten zu lassen. Der Wachmann, der diese Prozedur durchführt, sagt am Ende mit gedehnter Stimme: „Danke schööööön.“ Ich lächle und bin im Tiefsten meiner Seele entsetzt, in was für eine Misere ich mit meinen 65 Jahren geraten bin.

Ungeachtet aller äußeren Merkmale aber, inklusive der Umzäunung, ist das hier kein Knast. Du kannst gehen und kommen, wann du willst, und dem Lager bis zu 72 Stunden fernbleiben. Du bist nicht im Zimmer weggeschlossen. Um deine persönlichen Gegenstände musst du dich selber kümmern. In einem Safe kannst du sie lassen. Das Personal ist freundlich, man lächelt und ist hilfsbereit. Immer findet sich jemand, der deine Sprache spricht, Russisch, Farsi, Türkisch, Vietnamesisch.

Kleines Glück mit Fahrrad

Der Alltag in diesem früheren Krankenhaus, mit den langen Fluren, Mehrbettzimmern, schmutzigen Toiletten, noch dreckigeren Duschen und dem immer gleichen Essen schreckt keinen Menschen, der den Alltag in Sommerlagern für Kinder oder Studentenwohnheimen kennt. Den russischen Menschen, sowjetisch abgehärtet, kann das einfach nicht erschüttern.

Umso weniger, als ich Glück hatte und schnell ein separates Zimmer bekam. Und, viel wichtiger: ein Fahrrad. Fort vom Lageralltag bringt es mich. So lerne ich die Stadt kennen, die mir zugelost wurde. Ein Computerprogramm entscheidet, in welche Region Deutschlands Asylbewerber geschickt werden. Natürlich wollte ich in Berlin bleiben. Dort leben und arbeiten Freunde, alte und neue. Und diese bohrende Einsamkeit, die war da noch nicht. Doch der Zufall hat mir eine andere Karte zugespielt – Dresden. Es wäre töricht, nun in traurigen Gedanken zu versinken und diese Karte abzulehnen.

Alexandra Korolewa

Wissenschaftlerin, Umweltschützerin und Leiterin der ältesten russischen NGO, „Ekode­fense“, droht in Russland eine mehrjährige Gefängnisstrafe wegen ihres Engagements. Sie entzog sich der Verhaftung und beantragte in Deutschland Asyl. (taz berichtete)

Ich trete also in die Pedale und entdecke Dresden. Abends gehe ich zu Konzerten ins Sommerpalais. Ich weiß, an welchem Sonntag im Monat der Eintritt in welchem der Museen frei ist. Am Sonntag kann ich auch auf den wunderbaren Flohmarkt an der Albert-Brücke gehen, um mir für drei Euro eine Porzellantasse zu kaufen. Oder nichts, einfach nur schauen und von Reihe zu Reihe gehen. Ich sitze am Ufer der Elbe und höre die Sirenen von Ausflugsbooten oder zeichne die alten Platanen im Brühlschen Garten. Ich kann in den Botanischen Garten der Universität gehen, der eine Menge Vorteile hat – unter anderem den, dass der Eintritt immer frei ist. Diese Unternehmungen lenken vom Warten ab, von den Ängsten um die Freunde und Verwandten in Russland und von dem, was ich als größten Verlust empfinde: den Mangel an Gesprächspartnern.

Vorspiel zur Entscheidung

Einmal, es war spät abends, fiel mir ein, dass ich eine der wichtigsten ­Regeln nicht beachtet hatte. Ich hatte keinen Blick auf die Info-Tafel geworfen, wo eine Liste mit den Anhörungsterminen hängt. Das ist doch alles nur eine Formalität und ich werde schon nicht so bald an der Reihe sein, nach erst drei Wochen im Lager. Ich habe überhaupt keine Lust, drei Etagen nach unten und dann wieder nach oben zu gehen. Dann gehe ich doch. Auf der kurzen Liste erblicke ich meinen Namen: morgen!

Morgen! Mich erfasst Panik, für die es jetzt keinen Raum geben sollte. Denn die erste Anhörung ist ein Gespräch über das Wann und Wie, Dauer und Umstände der Reise nach Deutschland. Zu beweisen gibt es da nichts. Erst bei der zweiten Anhörung musst du die Gründe darlegen, warum du nach Deutschland gekommen bist.

Diese drei Wochen im Lager sind nur das Vorspiel. Denn der Asylantrag erfolgt erst bei der Anhörung, wenn du erzählst, wie du nach Deutschland gekommen bist. Das heißt, dann öffnest du eine Tür – zu Schutz und Zuflucht – und schließt im gleichen Moment eine andere – die zu deinem Zuhause.

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Übersetzung aus dem Russischen: Barbara Oertel

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3 Kommentare

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  • Das Prozedere lässt sich sicher an manchen Stellen besser gestalten. Im Kern abschaffen lässt es sich aber nicht. Selbst wenn man sich auf den Standpunkt stellt, jeder Mensch solle überall wohnen dürfen auf diesem Planten, wo er möchte, könnten die freien Rechtsstaaten der ersten Welt das höchst vermutlich rein logistisch gar nicht leisten.

    Wenn ich diesen Beitrag lese - und meine Mutter ist mit ihrer Familie auch geflohen und hat in einem Lager gelebt - dann sehe ich eine Mischung aus vermeidbaren und unvermeidbaren Umständen, von denen letztere die dringende Frage aufwerfen, wie man es in der Zukunft verhindern kann, dass Menschen überhaupt irgendwohin fliehen müssen.

    Duschen und Badezimmer kann man putzen, bürokratische Prozesse beschleunigen.



    Der Verlust von Familie, Freunden und Heimat ist dem Umstand immanent.

  • Zitat: „Ich wollte nicht in ein russisches Gefängnis, jetzt bin ich in einem deutschen.“

    Die „Verzweiflung der ersten Tage“ muss mit Alexandra Korolewa nicht erklären. Die kann ich auch ohne Worte sehr gut nachempfinden. Ich war mal DDR-Bürger. Jetzt bin ich Bundesbürger. Das wird mich nie wieder „loslassen“.

    Auch ich lächle. Viel. Immer noch. Wieder. Aber im Tiefsten meiner Seele bin ich auch immer noch, wieder entsetzt über die Misere in die ich geraten bin. Sehr. Dabei kann ich mich eigentlich gar nicht beschweren. Ich habe nicht nur eine eigene Wohnung, sondern ein ganzes Haus. Ein grundlegend saniertes sogar. Ich kann frei wählen, wo ich leben will. Niemand betastet mich, bevor ich durch die Tür gehe. Ein Knast sieht wirklich anders aus. Und doch bin ich nicht so ganz frei.

    Ich warte. Wie ich früher schon gewartet habe. Die Wartezeit verbringe ich damit, mich um mich selber und um andere zu kümmern. Ich lese, schreibe, arbeite, sehe mir Filme an, höre Musik. Ich gehe raus in die Natur. Die Menschen um mich rum sind meistens freundlich, lächeln und sind hilfsbereit. Fast immer ist da wer, der mit mir spricht. Und doch bin ich verdammt allein. Es fehlt mir an Gesprächspartnern und nicht an Leuten, die mal mit mir quatschen.

    Ich werde bis zu meinem Ende warten, vermute ich. Weil das auch alle andren tun. Sie warten darauf, dass ich werde wie sie sind, dass ich mich anpasse, denke wie sie. Das kann ich nicht, weil ich‘s nicht will. Ich will‘s mir nicht einmal erlauben. Weil ich genau weiß: es wäre verkehrt. Ich wäre nicht mehr ich, wenn ich wie alle andren funktionieren würde.

    Ich weiß genau: Wenn ich nicht länger warten würde, wär das, was mich jetzt manchmal fast verzweifeln lässt, ein kleiner Vorgeschmack. Da ist die Tür. Ich kann sie sehen. Ich kann sogar erkennen, was dahinter ist. Ich gehe nicht hindurch. Denn hinter mir wird sich die Tür für immer schließen. Und dann? Dann bin ich noch einsamer als schon jetzt. Dann hab ich nicht mal mehr mich selbst.

    • @mowgli:

      Du sprichst mir aus der Seele, auch wenn ich in der BRD aufgewachsen bin...