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Heimelig da oben

Keine deutsche Stadt liegt höher als Oberwiesenthal. Hier, im Erzgebirge, sind sie stolz auf ihre Heimat. Die DDR darf teilweise fortbestehen – fürs Geschäft

Annett Siegels Vater war Holzschnitzer. Sie führt nun ein Holzkunstfachgeschäft

Aus Oberwiesenthal Sebastian Erb

Dass die Deutsche Demokratische Republik in Oberwiesenthal 30 Jahre nach dem Mauerfall wiederaufgelebt ist, wenn auch nur auf ein paar Quadratmetern, hat wirtschaftliche Gründe. Matthias Haock hat die Postagentur des Städtchens übernommen, und sich überlegt, was er noch anbieten könnte. Er kam auf: DDR-Produkte. Tempo-Linsen, Badusan-Duschbad, „DDR Eierbecher Huhn“ aus Plaste. „Ostalgie“ steht in schwarz-rot-goldenen Buchstaben im Schaufenster. Und das Geschäft läuft ziemlich gut.

Oberwiesenthal liegt am Fuße des Fichtelbergs, des höchsten Berges Sachsens und ganz Ostdeutschlands. Gleich nebenan ist Tschechien, früher florierte hier der Schmuggel, heute kommen die Angestellten der Hotels über die Grenze, die man kaum mehr bemerkt.

„Das Heimatgefühl ist hier auch nicht anders als woanders. In Bayern haben die auch ihre Traditionen“

Heike Hühnefeld, Mitarbeiterin im Stadtmuseum

Die Fichtelbergbahn fährt hierher, Schmalspur, gezogen von einer Dampflok, Baujahr 1952. Vor der Abfahrt nimmt der Lokführer einen Schluck aus seiner Flasche: „Nicht nur die Lok braucht Wasser.“ Es sind 17 Kilometer und knapp 240 Höhenmeter in die höchstgelegene Stadt Deutschlands, 915 Meter über dem Meer. Die Lok rumpelt, hupt und klingelt. In weiten Serpentinen tuckert sie vorbei an Hühnern und Gänsen, ein Alpaka schaut aus seinem Unterstand hervor. Fichtenwald. Kühler Wind weht durch die offene Waggontür. Der Zug ist fast leer, außer mir sind nur ein Touristenpaar mit Nordic-Walking-Stöcken da und eine ältere Anwohnerin. Zwischendurch zieht der Schaffner an seiner Zigarre.

Von Oberwiesenthal aus kann man bereits seit 1924 weiter mit einer Luftseilbahn auf den Berg fahren und dort auf grüne Wälder herabschauen, auf Wiesen und ein paar Windräder. Im Ort selbst dreht der „Erzgebirgsexpress“ seine Runden, der langsam fährt, weil man ja was sehen soll. „Wir fahren gleich noch mal am Wohnhaus von Jens Weißflog vorbei“, sagt der Fremdenführer. Weißflog, der Skisprung-Überflieger, ist Ehrenbürger des Ortes, in seinem Hotel lädt er ­regelmäßig Gäste zu Kaffee und Kuchen ein und erzählt Geschichten von früher, für 9,90 Euro – Kaffee und Kuchen inklusive.

Wie kam Matthias Haock zum Geschäft mit der Ostalgie? „Ich bin in Russland geboren“, sagt er und nennt sein genaues Geburtsdatum, 9. November 1990, weil es ja irgendwie passt. Die Erinnerung an den Osten ist Teil seiner Familiengeschichte. Er kam als Kind nach Oberwiesenthal, ist hier zur Schule gegangen, die inzwischen geschlossen wurde; seine Freunde von damals: alle weg.

Seine Lehre zum Groß- und Einzelhandelskaufmann hat er geschmissen, zum Händler wurde er trotzdem. Er hat in Russland Unterwäsche vertrieben, zehn Jahre lang. Aber der Rubel fiel und es wurde schwierig. Auch hier im Erzgebirge hat er erst ein Unterwäschegeschäft aufgemacht, dann ein zweites, aber es fehlten die Kundinnen. Jetzt, in der Postagentur, sieht er an all den Retourenpaketen, dass alle nur noch online einkaufen.

In der Postagentur am Markt in Oberwiesenthal gibt es seit April 2019 ein paar Quadratmeter DDR

Ein Mann kommt in den Laden. „Ich bin beeindruckt, all diese originellen Sachen.“ Er komme aus dem Osten, erzählt er, wohne aber seit zwanzig Jahren in Frankfurt am Main. „Mit einem T-Shirt, auf dem ‚Held der Arbeit‘ steht, durch Frankfurt zu laufen, das finde ich geil.“

Eigentlich findet Matthias Haock: „Das Ossi-Wessi-Thema ist durch, heute geht es eher um die Frage Migrant oder Nichtmigrant.“ Dabei hat seiner Meinung nach die AfD eine richtige Einstellung. Konsummäßig funktioniert das mit der Ostalgie aber immer noch, vor allem bei Älteren. Die Einkaufsnetze aus Dederon muss er jede Woche nachbestellen. Jetzt, wo Plastiktüten verpönt sind, kommen sie noch besser an, die guten alten Dinge.

17 Kilometer lang ist die Strecke der Fichtelbergbahn, sie führt vom Bahnhof Cranzahl nach Oberwiesenthal und überwindet dabei fast 240 Höhenmeter. Eine Stunde dauert die Fahrt in die höchstgelegene Stadt Deutschlands. Die Dampflok des Zugs, mit dem ich unterwegs war, fasst 5,8 Kubikmeter Wasser und 3,6 Tonnen Kohle – die wird aus Polen geliefert Fotos: Sebastian Erb

Der Blick zurück, so scheint es, hilft Oberwiesenthal voranzukommen. Der Ort hat seit der Wende die Hälfte der Einwohner verloren, heute wohnen gut 2.000 Menschen hier. Die hohe Arbeitslosigkeit von damals ist kein Thema mehr. Das liegt vor allem am Tourismus, 600.000 Übernachtungen im Jahr, besonders im Winter. Im Sommer kommen inzwischen mehr Besucher und schauen offenbar großzügig über die latente Trostlosigkeit hinweg, die allen Skigebieten innewohnt, wenn kein Schnee liegt. Manche fahren dann eben mit Monsterrollern den Berg hinunter.

Auf alles, was bei Schnee und Eis passiert, sind sie hier besonders stolz. Und vielleicht kann niemand so leidenschaftlich davon erzählen wie Heike Hühnefeld, Anfang 50, ehrenamtliche Schanzenspecherin und Mitarbeiterin im Stadtmuseum.

Im Gebäude, in dem früher das Königlich-Sächsische Forstamt war, wurde noch in der DDR ein Museum eröffnet, 2005 aber geschlossen. Als es um die Wiedereröffnung ging, brachten Leute aus der Stadt ihre Ideen ein. Rund 40 Oberwiesenthaler hätten in mehreren AGs das neue Konzept entwickelt, erzählt Heike Hühnefeld. Sie kümmerte sich um den Wintersport-Saal.

Auf durchs Erzgebirge mit Bus, Dampfzug und Seilbahn

Hühnefeld erzählt von den Zeiten, als es bis zu acht Skihersteller im Ort gab. Von den Trainingsformen, die hier entwickelt wurden, Schlittern auf Gras im Sommer zum Beispiel. Von den insgesamt 404 Medaillen, die Sportlerinnen und Sportler vom hiesigen Trainingsstützpunkt gewonnen haben; ein paar liegen jetzt in der Vitrine.

Vor dem Museum steht ein Spruch des Liedermachers Anton Günther: „Es ganze Laabn is ’ne Sehsucht nooch der Haamit.“ Heimat als das zentrale Motiv. Im Museum ist Günther ein Raum gewidmet und Hühnefeld druckst ein bisschen herum. Um ihn sei ein regelrechter Kult entstanden, seine Lieder wurden teils von rechts instrumentalisiert. Aber das Heimatgefühl, sagt sie, sei hier auch nicht anders als woanders. „In Bayern haben die auch ihre Traditionen.“

Auch Annett Siegel hatte Sehnsucht nach der Heimat, wollte unbedingt zurück, nachdem sie zehn Jahre lang weg war, im Schwarzwald. Heute hat sie ein Geschäft für traditionelle Holzkunst: Schwibbogen, Nussknacker, Engelfiguren. Ihr gefällt, wie heimelig es hier ist. Aber sie findet auch, dass manche im Ort zu stark an den Traditionen festhalten. „Den Fortschritt zuzulassen, ist schwierig für sie.“

Siegel ist Mitte 40, und sie mag nicht jammern. Sie findet, dass die Infrastruktur hier nicht schlecht ist, nach wie vor, es gibt eine Bank, Ärzte, Geschäfte. Sie erwähnt, dass es keine sozialen Brennpunkte gibt. Und sagt, dass sie hier nicht viel mit Ausländern zu tun habe, „die paar, die es gibt, sind gut integriert“. Sie habe nichts gegen Ausländer. „Uns geht es eigentlich gut“, sagt sie.

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