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Todesfall im Frankfurter HauptbahnhofDirekt ins Herz

Anja Maier
Kommentar von Anja Maier

In Frankfurt wurde ein Kind vor den Zug gestoßen. Die Tat ist auch deshalb so schrecklich, weil wir erkennen und begreifen, dass sie nicht uns getroffen hat.

Schock und Trauer am Frankfurter Hauptbahnhof Foto: dpa

J edeR kennt dieses klamme, bange Gefühl. Ein Porsche, der mit Lichthupe und 230 Sachen von hinten herangerast kommt. Der verwirrte Mann, der aggressiv schreiend durchs Stadtbild läuft, scheinbar auf der Suche nach einem leichten Opfer. Zugedröhnte Jugendliche in der U-Bahn, die sich provozierend laut über die Fuckability von Mitreisenden austauschen. Es sind Momente, in denen man an ein Wunder glauben möchte, dass diese Gesellschaft trotz all dem Stress, der Verachtung und ja, dem Hass, funktioniert. Dass wir uns nach wie vor und unumstößlich aufgehoben fühlen können in einer Gemeinschaft der Besonnenen.

In Frankfurt hat ein Mann ein Kind getötet. Er hat versucht, auch andere umzubringen, darunter die Mutter. Die Tat ist unter anderem deshalb so schrecklich, weil sie die dünner werdende Haut unserer Angst ritzt. Weil wir erkennen und begreifen, dass sie nicht uns getroffen hat. Unsere Lieben, unser Kind. Uns.

Davongekommen – so fühlt sich das an. Obwohl wir wissen, dass es statistisch extrem unwahrscheinlich ist, selbst Opfer einer solchen Tat zu werden: In derlei Momenten hebt die so tapfer wie mühsam ruhig gehaltene Angst ihr schläfriges Lid und starrt uns direkt ins Herz. Die traurige Wahrheit ist: Das acht Jahre alte Kind am Gleis ist nicht davongekommen. Es ist gestorben.

Schreckliche Ereignisse wie dieses sind ein Anlass, mal wieder zu schauen, wie es dem Sitznachbarn im Bus geht, sich zu fragen, ob der Obdachlose ein Gespräch nötiger hat als den täglichen Euro, ob die Rentnerin nebenan unsere Hilfe braucht. Das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein, die für uns einsteht, stellt sich nur dort ein, wo auch wir für sie einstehen.

All der Hass, die Verachtung und das schnelle Urteil füttern nur die Angst. Dem raschen Reflex zu widerstehen, dem hasserfüllten Kopf-ab-Gefasel der Eskalierer – das ist jetzt die Aufgabe. Diese Gesellschaft, dieses Land sollte sich die Fähigkeit nicht nehmen lassen, Vertrauen zu wagen, immer wieder aufs Neue. Alles andere lähmt uns.

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Anja Maier
Korrespondentin Parlamentsbüro
1965, ist taz-Parlamentsredakteurin. Sie berichtet vor allem über die Unionsparteien und die Bundeskanzlerin.
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20 Kommentare

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  • Ein trauriges und erschreckendes Ereignis, aber in keiner Form dazu geeignet ein Politikum zu sein. Schreckliche Dinge geschehen immer und überall.

  • An dieser Stelle muss mal wieder daran erinnert werden, dass wir hier in Deutschland in der mit Abstand sichersten Zeit der gesamten Geschichte leben, was Gewalttaten angeht. (Man lese S. Pinkers Buch "Gewalt"). Und auch das ganze Gerede darüber, dass die Gesellschaft (wieder) gewalttätiger werde, ist, soweit ich es sehen kann, nur aufgeregtes Geschnatter ohne realen Hintergrund.

    • 7G
      76530 (Profil gelöscht)
      @Doktor B.:

      Wenn ich mich richtig erinnere: Den Herrn Pinker haben Sie öfters im Angebot?

      Ich sage nur: Alles eine Frage des Blickwinkels bzw. der Definition von Gewalt. Gewalt beginnt nicht erst damit, dass Menschen niedergeschossen (letzte Woche) oder vor Züge gestoßen werden (letzte und diese Woche) werden.

      Auch soziale Ausgrenzung und Abschiebung, ob bei Wohnsitzlosen, Armen, Kranken, Fremden ist für mich Gewalt. All diesen Menschen wird ein Leben aufgezwungen, das nicht ihres ist.

      Und wenn ich (ich werde jetzt mal sehr persönlich) nach einem Berufs- und Privatleben für das Gemeinwohl vereinsamt und verarmt in der Pampa lebe, fernab meines einstigen Lebensmittelunktes, so ist dies: GEWALT.

      Näheres besagt eine Recherche im ethymologischen Geläuf.

      Ein Schnatterer mit sehr realem Hinter- und VORDERgrund.

      • @76530 (Profil gelöscht):

        Ich verstehe den Ansatz, aber der Begriff Gewalt ist bereits definiert und er meint nicht die Ausgrenzung von Menschen. Diese kann man durch eben das Wort Ausgrenzung und etliche andere Wörter beschreiben. Neusprech ist so ne Sache.

        • 7G
          76530 (Profil gelöscht)
          @Hampelstielz:

          Mit Neu- oder Altsprech hat das wenig zu tun. Ich hätte mir den Hinweis auf die Ethymologie besser hier erspart und Richtung Soziologie gedeutet.

          Strukturelle Gewalt ist auch Gewalt - und nicht nur Ausgrenzung. Dieser Terminus allein ist mir zu harmlos-euphemistisch formuliert.

          • @76530 (Profil gelöscht):

            Das hängt ja ganz davon ab, ob man Ausgrenzung als etwas harmloses wertet. Wenn man den Begriff Gewalt als Anwendung von Macht gebraucht, passt er wohl auch in dein Beispiel, da hast du recht.

  • 7G
    76530 (Profil gelöscht)

    Oberflächengeplänkel der bekannten Art.

    Wer Gründe wissen will, muss sie auch sehen WOLLEN. Dazu ist es nötig, an die Wurzeln (radix) ranzugehen. Nach den Ursachen suchen, nicht bei den Wirkungen stehen bleiben.

    Eine Welt, die auf Gewalt beruht, kann nur mit Gewalt funktionieren. Einfache Logik. Das bedeutet nicht, dass täglich Menschen vor Züge gestoßen werden müssen. Aber wie wir sehen, passiert es offenbar immer öfter.

    ( Auch pfeffersprühende Polizisten sind gewalttätig, einerlei, ob sie zuvor "provoziert" wurden - oder nicht. Die Festsetzung eines iranischen Tankers in internationalen Gewässern vor Gibraltar ist ebenso gewalttätig. Auch das Vorgehen der chinesischen Polizei gegen Demonstranten in Hongkong. Die Liste könnte noch sehr lange werden ...)

    Die Suche nach möglichen Motiven des Täters ist in meinen Augen direkt nach der armseligen Tat eine Fortsetzung der Dummheit mit anderen Mitteln. Würde ein Motiv etwas ändern? Vielleicht gibt es ja eines, das in seiner Profanität der veröffentlichten Meinung nicht gerecht wird?

    Deutschland in Zeiten der aufsteigenden Gewalt. Wer profitiert von solchen Ereignissen? Auch das wäre eine Frage. Nicht gerade die Unwichtigste.

    Mit wachen Sinnen durch die Welt laufen - falls es dazu noch nicht zu spät ist.

    • 0G
      05344 (Profil gelöscht)
      @76530 (Profil gelöscht):

      Ich kann mir schon vorstellen, dass die Filmindustrie "ein Wörtchen mitzureden" hat. ;-)

    • @76530 (Profil gelöscht):

      "Mit wachen Sinnen durch die Welt laufen..." und nicht mehr mit geneigtem Kopf und geistig in der Ferne aufs Handy starren.

  • "Angst" hat wohl kaum einer, eher totales Mitgefühl was dem Kind und der Mutter widerfahren ist. Morden Unschuldiger ohne Grund ist perfide.

  • Angst habe ich keine. Mich packt nur die Verzweiflung weil keinen zu interessieren scheint, woher denn diese Aggression kommt. Oder weiß man es und will nichts verändern weil damit zu viel Geld verdient werden kann. Ich spreche hier hauptsächlich von unserem werbefinanzierten Mord- und Totschlagfernsehen.

    • 9G
      91867 (Profil gelöscht)
      @APO Pluto:

      In dem Punkt stimme ich Ihnen zu. Auch das ist aber nur Teil des Problems.

  • Das ist halt die Gewalt, auf die wir sehen können - und wollen.



    Sie scheint uns deshalb besonders sinnlos, weil wir uns tatsächlich so sehr daran gewöhnt haben, dass jemand seine (Ex)Freundin (tot) prügelt oder einfach jemanden schlägt oder anspuckt, dass wir dem einen sinnhaftigen Kontext zugestehen.

    2018 wurden 136 Kinder getötet - nur eben nicht vor den Zug gestoßen.

    Jedes Jahr werden ca 400 Frauen getötet und bei weiteren 500 wird das versucht... es sind nur keine Züge im Spiel.

    • @Michael Garibaldi:

      Sie unterschlagen als weitern Unterschied auch: das fehlende Motiv.

      Beziehungsdramen gibt es schon eh und je.

      Willkürliche Ermordung von Menschen ist nicht alltäglich und natürlich erzeugt dies mehr Gesprächsstoff.

      • @lord lord:

        "Beziehungsdramen gibt es schon eh und je."



        Durch solche verabsolutierenden Aussagen, das Labeln von Taten als "Beziehungsdramen", werden auch toxische Männlichkeit, Frauenfeindlichkeit usw. verschleiert.

    • 9G
      91867 (Profil gelöscht)
      @Michael Garibaldi:

      Das ist lupenreiner Relativismus. Es geschieht eine Straftat und wird von Ihnen mit dem Hinweis auf andere Straftat(felder) indirekt relativiert. Schämen Sie sich! An Frau Maier: Kluger Kommentar! Danke dafür.

      • @91867 (Profil gelöscht):

        Umgekehrt wird da ein Schuh draus.



        Schämen würde ich mich eher, wenn ich die Sinnhaftigkeit von Femiziden postuliere.



        Es werden jeden Tag in Deutschland Frauen getötet oder versucht sie zu töten oder sehr schwer verletzt.



        Tausende jedes Jahr.



        Das relativiere ja nicht ich, sondern Du.

      • @91867 (Profil gelöscht):

        Diese "Zurechtweisung" finde ich unberechtigt. Es ist einfach wahr, dass uns ein Angriff OHNE jede Beziehung zum zufälligen Opfer weit mehr irritiert als die altbekannte, aber deshalb moralisch nicht "bessere" häusliche Gewalt / Morde innerhalb von Beziehungen.



        "Zufällige" Opfer können wir alle werden - in Beziehungen meinen wir, selbst etwas dazu tun zu können, dass sie nicht in Gewalt ausufern.

  • 0G
    06831 (Profil gelöscht)

    Danke Frau Maier.



    Angst lähmt aber auch,.

    • 7G
      76530 (Profil gelöscht)
      @06831 (Profil gelöscht):

      Was die Angst angeht: es ist etwas anderes, Angst bei sich zu spüren, oder sich seinen Ängsten auszuliefern und sich von ihnen leiten zu lassen.

      Ersteres erhöht die Wachsamkeit, zweites kann zu Verbitterung und Lähmung führen.

      Jeder entscheidet selbst darüber, welches M a ß an Angst er bei sich zulässt.