Buch zum „Roten Wien“: Mehr Wien wagen
Inspiration gefällig, liebe Städteplaner_innen und Kommunalpolitiker_innen? Die Geschichte Wiens bietet jede Menge Vorbilder.
Das Rote Wien ist derzeit in aller Munde, nicht nur weil es seltsam gegen den rechtskonservativen Zeitgeist steht, sondern weil sein Ursprung in den ersten freien Kommunalwahlen vor hundert Jahren verortet wird.
Das Wien Museum hat aus diesem Anlass eine Ausstellung gestaltet und einen prallvollen Katalog herausgegeben. Gleichzeitig veröffentlicht der Picus Verlag die einschlägigen Vorträge der Wiener Vorlesungen aus dem vergangenen Jahr als handliche Sammlung.
Die ersten Gemeinderatswahlen nach dem Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie brachten der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) eine absolute Mehrheit im Wiener Rathaus. Die Stadt platzte aus allen Nähten, und es bedurfte schneller und effektiver Lösungen.
Schon weil Tausende wohnungslose Menschen ihr Schicksal selbst in die Hand nahmen und auf Brachflächen illegal Siedlungen errichteten, worauf die junge Stadtregierung reagieren musste. „Auch Brachen im Spekulationsvorfeld der gründerzeitlichen Blockrandbebauung, Industrie- und Bahnareale, Ziegelgruben und Exerzierplätze wurden besetzt und urban gemacht“, schreiben Friedrich Hauer und Andre Krammer in ihrem Aufsatz „Wilde Siedlungen und rote Kosakendörfer“.
„Das Rote Wien 1919–1934. Ideen, Debatten, Praxis“. Hg: Werner Michael Schwarz, Georg Spitaler, Elke Wikidal. Verlag Birkhäuser, Basel, 470 Seiten, 39 Euro
Gegen den Abriss
Windschiefe Bretterhütten, wie man sie heute aus den Slums der sogenannten Entwicklungsländer kennt, wurden errichtet und mit Gemüsegärten für die Selbstversorgung umgeben. Die Sozialdemokratie entschied sich gegen Repression und Abriss und setzte vielmehr auf Vereinnahmung.
Sie gründete die Wiener Siedlerbewegung, die dabei half, die teilweise gefährlichen Unterkünfte solider zu machen, durch Umwidmungen der Flächen auf eine legale Basis zu stellen und mittels Kommunalkrediten zu unterstützen. Die Hyperinflation der zwanziger Jahre war dabei hilfreich, die Grunderwerbskredite für kommunale Ankäufe zu tilgen.
Einige der renommiertesten Architekten der Zeit, darunter auch Adolf Loos und Margarete Schütte-Lihotzky, die Erfinderin der Frankfurter Küche, wurden verpflichtet, zweckmäßige und ästhetisch ansprechende Wohnkomplexe zu entwerfen. Gleichzeitig galt es, die Tuberkulose zu bekämpfen, Schulen zu bauen und sauberes Trinkwasser für alle zugänglich zu machen.
Wenn man vom Roten Wien der Zwischenkriegszeit spricht, dann bezieht man sich meist auf die rege Bautätigkeit, die in einem Jahrzehnt nicht weniger als 800 Gemeindebauten entstehen ließ und damit nicht nur der Wohnungsnot begegnete, sondern auch Experimentierfelder für eine sozialistische Arbeiterkultur schuf.
Proletarischer Stolz
Es wurden nicht billige Plattenbauten wie im Realsozialismus hochgezogen, sondern architektonisch interessante Zweckbauten errichtet, von denen einige neue Formen des Zusammenlebens ermöglichten. Neben kollektiven Waschküchen und Kinderkrippen gab es auch Versuche, Gemeinschaftsküchen einzurichten, was es der modernen Frau erlaubte, ganztags einer bezahlten Beschäftigung nachzugehen.
Bibliotheken, Arbeitersportvereine, Frei- und Hallenbäder, Volkshochschulen und Lesezirkel ermöglichten es dem Proletariat, einen gewissen Klassenstolz zu entwickeln.
Einer dieser Proletarier war Bürgermeister Jakob Reumann, der eine Drechslerlehre absolviert hatte und in seiner Antrittsrede im Mai 1919 auf seinen sozialen Hintergrund Bezug nahm, „als Vertreter der Arbeiterschaft, die jahrzehntelang rechtlos und nur ein Objekt der Verwaltung war“. Im Roten Wien kann man sich Ideen holen, wie Immobilienspekulation und Mietpreiswucher vorgebeugt werden kann.
Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) zählte damals in Wien mehr als 400.000 Mitglieder. Das ist mehr, als die SPÖ bei den Gemeinderatswahlen 2015 an Stimmen – nämlich 329.773 – erzielte.
Der Katalog deckt in seinen über 70 Beiträgen sämtliche Aspekte jener revolutionären 14 Jahre ab, die mit dem Putsch der Christlichsozialen und der Errichtung des Ständestaates unter Engelbert Dollfuß 1933 beendet wurden.
Das Panorama reicht von historischen Texten über die Frauenpolitik und die Modernisierung der Hauswirtschaft, die Schulreform und die Psychoanalyse über den zwiespältigen Umgang der Sozialdemokraten mit den Juden bis zu Detailstudien über den berühmten Karl-Marx-Hof und Aufsätze über das Praterstadion und das Amalienbad.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!