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Kolumne Fremd und befremdlichDas große Wegwerfen

Im Internet-Zeitalter können wir alles haben, was wir uns ausdenken können. Das ist unser Film, unsere Wirklichkeit und unser Alptraum.

Amazon-Kritik in Winsen: Greenpeace-Aktivisten seilen sich ab Foto: dpa

L eute von Greenpeace haben in Winsen (Luhe) anlässlich des „Prime-Days“ aus Versandkartons einen Schriftzug gebaut und der Amazon-Filiale auf das Dach gestellt: „Für die Tonne“. Der Konzern hat diese Leute verklagt. Ich kann mich an einen Film erinnern, es ist schon sehr lange her, ich war noch ein Kind, der spielte in der Zukunft, und da drückten die Menschen einfach auf Symbole auf einem Bildschirm, für die Dinge, die sie in diesem Moment gerne haben wollten, Torten, Schuhe, so was, was damals diesen Filmemachern irgendwie erstrebenswert schien, und dann hatten sie es auch schon, dann war es ganz plötzlich da.

Es gab damals, als ich Kind war, eigentlich kaum etwas, das wir haben wollten, weil wir einfach gar keine Vorstellung hatten. Aber eines Tages entdeckten meine Schwester und ich bei unserer Oma einen alten Otto-Katalog. Wir hatten ja keine Ahnung gehabt, was man alles haben konnte! Heute versuche ich, weniger von den Dingen zu wissen, die ich vielleicht gerne haben wollen würde, ich versuche, mich zu disziplinieren, aber meine Vor-Otto-Katalog-Unschuld ist verloren.

Die Firma Amazon hat die Vision dieses Kinderfilmes übrigens wahr werden lassen. Ich will etwas haben, oder ich sehe mir an, was ich haben will, ich drücke ein paar wenige Tasten, und schon am nächsten Tag ist es alles da. Ich suche, zum Beispiel, nach solchen Haken, die man an den Fensterrahmen befestigen kann, die genau auf meine Fensterrahmen passen, und meine Suchmaschine findet sie auf Amazon. Ich weiß, ich sollte das nicht tun. Aber wo kriege ich diese verdammten Haken denn her? In wie viele Geschäfte muss ich dafür laufen? Wie viele Stunden in Baumärkten herumkramen? Ausreden. Bequemlichkeiten.

Amazon saugt kleineren Geschäften die Kunden ab. Die Geschäftsinhaber der kleinen Geschäfte müssen Steuern an unsere Gemeinschaft abrichten. Sie müssen die Lasten der Gemeinschaft mittragen, unsere Schulen, die Straßen, die Kultur, sie haben Verantwortung. Amazon zahlt aus recht unverständlichen Gründen so gut wie gar keine Steuern. Amazon beutet seine Mitarbeiter aus, vernichtet Retouren. Das ist einer der neueren Vorwürfe.

Hätte sie das Internet nicht, dann wüsste sie nicht von der Existenz der Dinge im Laden
Lou Probsthayn
Katrin Seddig

ist Schriftstellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Das Dorf“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.

Daran hat man in dem Kinderfilm nicht gedacht, dass die Torte zurückgehen könnte. Dass sie dann weggeworfen wird, so eine zurückgegebene Torte. Ein Zurückgeben war in dem Kinderfilm gar nicht möglich. Man musste diese Torte schon essen, wenn man sie haben wollte.

Das Mädchen, das bei mir wohnt, bestellt bei H & M. „Warum kaufst du die Sachen nicht im Laden?“, sage ich. „Aber da haben sie das nicht, was ich will“, sagt sie. Das was uns der alte Otto-Katalog im Kleiderschrank meiner Oma, das ist ihr das Internet. Hätte sie das Internet nicht, dann wüsste sie nicht von der Existenz der Dinge, die es im Laden nicht gibt. Dann wüsste sie, dann wüssten wir alle nur von den Dingen, die es gibt, nicht von denen, die es nicht gibt.

Aber jetzt gibt es nicht mehr nur Dinge, die es gibt, es gibt auch Dinge, die es nicht gibt, aber irgendwo eben doch. An irgendeinem Ort der Welt, da gibt es alles, aber wirklich auch jeden beknackten Haken, und sollte es diese Dinge tatsächlich einmal noch nicht geben, dann werden sie so flugs von Kindern in Dritte-Welt-Ländern mit ihren kleinen Händchen zusammengebaut, dass gar keine Verzögerung im Bestellvorgang entsteht.

Alles können wir haben, alles, was wir uns nur ausdenken können, in jeder Variante, und wenn wir es dann haben, dann brauchen wir es nicht einmal behalten, und deshalb müssen wir uns nicht sicher sein, das wir etwas wirklich wollen. Wir müssen nur den Hauch eines Wollens verspüren, wir können es ja alles umgehend wieder zurückgeben, wir können neue Dinge haben, die uns besser passen, die uns besser gefallen, Dinge, die sich unserer Individualität und unseren Bedürfnissen exakt anschmiegen, für diesen Moment. Das ist unser Film, das ist unsere Wirklichkeit, das ist unser Alptraum, das ist das große Wegwerfen. Wer darauf aufmerksam macht, wird bestraft.

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1 Kommentar

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  • Was ich haben will, das krieg' ich nicht. Und was ich kriegen kann, das gefällt mir nicht.