Milch-Doku auf ARD: Ein Film wie eine Überdosis Laktose
Mehr als einmal lässt „Das System Milch“ einem die Landliebe sauer werden. Immerhin zeigt die ARD-Doku, dass es auch anders geht.
Vor 8.000 Jahren hatten ein paar Steinzeitler*innen eine ziemlich erfolgreiche Idee: Sie entdeckten das Potential der Zitze. In entbehrungsreichen Wintern erwies sich tierische Milch als Lebensretter. Heute tötet sie. In Frankreich bringt sich alle zwei Tage ein Landwirt um, ergab eine Umfrage der französischen Gesundheitsbehörde. Im Senegal erzählt man, die Schwemme an billiger EU-Milch treibe verzweifelte Bauern aufs Mittelmeer. Und die Kuh: Könnte bis zu 25 Jahre alt werden, erlebt aber oft ihren fünften Geburtstag nicht.
All das erfährt man in der Dokumentation „Das System Milch“ des Südtirolers Andreas Pichler. Der Film lässt einen mit Bauchgrummeln zurück wie eine Überdosis Laktose, dabei erzählt er gewiss kaum Neues: Multinationale Molkereien bestimmen die Milchpreise, Familienbetriebe wurschteln sich über die Runden, Subventionen aus Brüssel versauen die Märkte in Afrika.
Milchseen und Butterberge: Die meisten Schüler*innen lernen das heute in der Oberstufe in Sozialkunde. Doch wie Pichler den Stoff über neunzig Minuten kenntnisreich wiederholt und bildhaft macht, ist eindrücklich. Die Reise geht in gigantische Fabriken, chinesische Supermärkte, zu schwäbischen Ställen. Und beginnt doch in Pichlers Kindheit.
Der Filmemacher hütete früher selbst Kühe in den Bergen seiner Heimat Bozen. „Dass Kühe Milch geben war für mich so selbstverständlich, wie dass Wasser den Bach runterfließt“, erzählt Pichler. Heute dagegen ist die Milchindustrie big business. 200 Millionen Tonnen werden in Europa jedes Jahr hergestellt: Fordismus für’s Müsli. Zwar ist der Markt 100 Millionen Euro schwer, aber auf den Bauernhöfen kommen nur ein paar Cent pro Liter an.
Die Geigers und ihr heißer Scheiß
So auch beim Familienbetrieb Geiger in Donzdorf (das Schwäbische wird im Film untertitelt wie eine Fremdsprache). Während es in der Stube noch einen zünftigen Topf mit Maultaschen gibt, rumpelt im Stall der Putzroboter „Discovery“ umher. Die Melkmaschine „Lely Astronaut“ wird gefilmt wie in einem Kubrick-Film. Doch trotz moderner Technik können die Geigers kaum genug Milch produzieren.
„Das System Milch“ läuft am Mittwoch um 22.45 Uhr im Ersten.
„Mit der Scheiße verdienen wir mehr Geld“, sagt Margret Geiger. Die Gülle kann als Dünger ausgebracht werden. Mit erheblichen ökologischen Konsequenzen, wie man vom Göttinger Agrarforscher Johannes Isselstein erfährt: Nitrat oder Ammoniak versickern im Boden, Lachgas steigt in die Atmosphäre, erklärt der Professor in Jack-Wolfskin-Fleece, alles echt ungesund.
Doch die Industrie kennt offenbar keine Limits. „Wachsen oder Sterben“, pointiert ein Manager einer Firma für Trockenmilch, es klingt wie aus dem Wörterbuch Deutsch-Kapitalismus/Kapitalismus-Deutsch. Andreas Pichler erörtert die globalisierten Wirtschaftszusammenhänge ausführlich anhand von zahllosen Protagonist*innen, spricht mit Gewinnern und Verlierern. In Dakar, wo ein Tütchen europäische Milch 15 Cent kostet, sagt ein Farmer: „Die Kinder, die im Mittelmeer ertrinken, sind die Söhne der Viehzüchter.“
Ähnlich ernüchternd ist die (wohlbekannte) Misere der Milchkühe, die Pichler dem Publikum wieder ins Gedächtnis ruft. Zu Formel1-Maschinen der Holsteinrasse hochgezüchtet, werden die Tiere quasi ständig besamt, eine Edelstahlspritze ragt im Stall aus einem Hintern. Dauerschwangerschaft ist hier Geschäftsgrundlage, die männlichen Kälber „Abfallprodukte“, wie ein Landwirt es formuliert.
Mehr als einmal lässt „Das System Milch“ einem die Landliebe sauer werden. Immerhin zeigt der Film, dass es auch anders geht: Zurück in Südtirol besucht Pichler einen Biobauernhof. Eine Kuh schleckt neugierig über die Kameralinse. Sie darf älter werden als fünf Jahre.
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