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Merkel in Erklärungsnot im Osten

Die Union gerät im Kampf um ostdeutsche Wähler weiter in die Defensive. Stoiber sorgt für Verwirrung. Schröder kündigt mehr Geld für Hartz-IV-Empfänger an. Bei einem Auftritt in Wittenberg unterstellt Merkel Störern, sie seien arbeitslos und nutzlos

AUS WITTENBERG UND BERLINH. HAARHOFF UND L. WALLRAFF

Für Angela Merkel gab es gestern eine gute Nachricht: CSU-Chef Edmund Stoiber hat klargestellt, dass er entgegen anders klingenden Ankündigungen doch nicht zu einem Fernsehduell mit Oskar Lafontaine antreten möchte.

Stoiber ließ erklären, er wolle lediglich ein „Printduell“ in einer Zeitung mit dem Anführer der Linkspartei führen. Das mag die Kanzlerkandidatin der Union etwas beruhigen. Schließlich wäre sie bei einem spektakulären Fernsehauftritt Stoibers gegen Lafontaine wohl auf jeden Fall die Verliererin gewesen. Hätte sich Stoiber gegen den brillanten Rhetoriker Lafontaine vor laufenden Kameras blamiert, hätte dies die Union weitere Stimmen kosten können. Mit einem glanzvollen Auftritt wiederum hätte Stoiber alle überrascht – und Merkel die Show gestohlen.

Doch kaum hatte sich die Aufregung über Stoibers vermeintliche Duellabsichten etwas gelegt, geriet die Kanzlerkandidatin in andere Schwierigkeiten. Bundeskanzler Gerhard Schröder ging im Kampf um ostdeutsche Wählerstimmen in die Offensive: Der im Osten bisher niedrigere Regelsatz beim Arbeitslosengeld II (331 Euro) solle an das Westniveau (345 Euro) angeglichen werden, ließ Schröder mitteilen. Noch im August. Dieser im Osten mutmaßlich populäre Vorstoß der SPD bringt Merkel in Verlegenheit. Schließlich hatte sie überall versichert, ihrerseits einen „ehrlichen Wahlkampf“ führen zu wollen und „keine Versprechungen“ zu machen, die sie nicht einlösen könne. Merkel blieb zunächst bei ihrer Linie. In einem Interview mit der Chemnitzer Freien Presse lehnte sie eine Angleichung der Zahlungen ab und verwies auf die Kosten von 300 Millionen Euro jährlich, von denen im Moment niemand sagen könne, wie das zu finanzieren sei. Bei einem Wahlkampfauftritt in Wittenberg wurde Merkel gestern prompt mit einem kritischen Plakat begrüßt: „‚Ossi‘ Merkel – du bist nur für Reiche da“.

Merkel ließ sich dennoch zu keinen neuen Versprechungen hinreißen. Auf Pfiffe und Protestrufe aus dem Publikum reagierte sie gereizt: „Die, die da schreien, haben in der Schule nichts mitgekriegt.“ Es sei zwar schön, dass man im Gegensatz zu DDR-Zeiten öffentlich protestieren könne, kommentierte sie die Störungen durch ihre Gegner. „Aber die helfen uns auch nicht weiter, die verdienen kein Geld.“

Ob es Merkel hilft, Gegendemonstranten pauschal Arbeitslosigkeit und Nutzlosigkeit zu unterstellen? Ausgerechnet jetzt, da CSU-Chef Stoiber die Ostdeutschen mit seinen abfälligen Äußerungen ohnehin „verletzt“ hat, wie der CDU-Fraktionschef von Mecklenburg-Vorpommern, Eckhardt Rehberg festgestellt hat?

Stoiber wiederum sorgt inzwischen selbst in der eigenen Parteizentrale für Verwirrung. „Manchmal sind die Wege des Herrn unergründlich“, entfuhr es einem CSU-Sprecher, nachdem er erfahren hatte, dass sein Chef nun doch kein Fernsehduell mit Lafontaine wolle. Am Vormittag hatte er noch wortreich begründet, warum es eine Super-Idee Stoibers gewesen sei, den Ex-SPD-Chef zu einem Livegespräch herauszufordern. Dies sei die beste aller Gelegenheiten, um Lafontaine zu entzaubern und potenzielle Linkswähler „zurückzuholen“. Man arbeite daran, baldmöglichst einen Sendeplatz und -termin zu finden. „Innerhalb der nächsten zwei Wochen ist das sicher realistisch.“ Von wegen. Schon innerhalb der nächsten zwei Stunden hatte sich das Blatt gewendet. Stoibers Regierungssprecher verkündete plötzlich: „Stoiber sucht keine Show mit Lafontaine, sondern eine inhaltliche Auseinandersetzung über die Aussagen dieser neulackierten PDS.“ Das Streitgespräch mit Lafontaine solle deshalb in gedruckter Form erscheinen. So könne man „die Argumente besser dokumentieren“, fand nun auch der Parteisprecher.

Einigen in der CDU wäre es am liebsten, die Ostdeutschen bekämen Stoibers Argumente gar nicht mehr zu hören. Er solle es der CDU überlassen, im Osten um Stimmen zu kämpfen, forderte Rehberg Stoiber auf. „Man muss vor allen Dingen dafür sorgen, dass nicht ständig über die falschen Themen geredet wird“, sagte Sachsens Ministerpräsident Georg Milbradt. „Die Frage ist doch: Was bieten wir dem Osten an Politik an?“ Wie sich beim Arbeitslosengeld zeigt, fällt Merkel die Antwort darauf schwer.

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