piwik no script img

Debatte um VAR und neue RegelnSchrödingers Videobeweis

Wie genau muss der VAR noch werden? Die Frauen-WM zeigt, dass Toleranzzonen gut wären. Fifa-Oberschiri Collina versteht das Problem nicht.

Versteht den Unmut nicht – Schiedsrichter Pierluigi Collina Foto: reuters

Paris taz | Pierluigi Collina sieht nicht viel anders aus als vor zwanzig Jahren. Die derzeit nur noch zweitberühmteste Glatze des Weltfußballs sitzt Achtung gebietend im Pressekonferenzraum von Paris, die stechenden blauen Augen wandern über die Gruppe, ab und an grinst er. „Wir sind wie die Enten“, sagt er über sein Komitee. „Unter der Oberfläche paddeln wir hektisch, aber über Wasser sind wir ganz ruhig.“ Dafür, dass er in der Fifa sitzt, hat Collina schon okayen Humor.

In den letzten Wochen hat das Schiedsrichterkomitee wohl intern ziemlich hektisch gepaddelt, unter Beschuss wegen VAR, Füßen auf Torlinien, seltsamen Elfmetern und so fort. Schiri-Boss Pierluigi Collina, der Unerschütterliche, soll jetzt den öffentlichen Schutzschild geben. Auf inhaltliche Diskussionen lässt er sich nicht ein. Die Botschaft seiner Pressekonferenz ist sehr einfach: Alles läuft hervorragend. Die öffentliche Aufregung ist grundlos. Und Regelwerk muss nun mal angewendet werden.

Es herrscht da ein spannendes Missverhältnis zwischen den Offiziellen auf der Bühne und vielen Pressevertretern im Raum. Die Definition nämlich, was ein Fehler sei: eine Wahrheit nicht zu erkennen. Oder Wahrheit um jeden Preis erkennen zu wollen. Zufrieden präsentierte Collina die Erfolge mit dem/der Video Assistant Referee (VAR), bei denen man sowieso skeptisch sein darf, ob sie stimmen, weil die Fifa die Zahlen selbst erhebt: Ohne VAR seien rund 92 Prozent der Schiedsrichterentscheidungen richtig gewesen, mit VAR bei diesem Turnier rund 98 Prozent. „Wir werden versuchen, die Zahl der Fehler immer kleiner zu machen, aber wir sind nicht perfekt.“ Dabei war fehlende Perfektion wahrlich nicht der Vorwurf.

Warum es Proteste im Publikum gebe, befremdete Collina also. Was diese bedingungslose Wahrheitsfindung mit dem Menschen tut, umschiffte er geschickt, ja er schien es auch nicht recht zu begreifen. „Wenn der VAR uns erlaubt, etwas zu sehen, können wir es nicht ignorieren. Der VAR kann nicht blind sein.“ Das klang schon nach dystopischem Sci-Fi-Roman.

„Es gibt kein kleines und großes Abseits“

Tatsächlich ging es den meisten Fragestellern gar nicht darum, den VAR erblinden zu lassen, sondern um die Details seines Regeleifers. Ganze vier Elfmeter gab es nach Collinas Angaben beim gesamten WM-Turnier 2011. Beim Turnier 2015 waren es 22, beim aktuellen Turnier sind es schon nach dem Achtelfinale 23. Wo jeder Finger am Ball und jeder fehlende Millimeter Fuß auf der Linie geahndet wird, prägen Elfmeter also mehr als jede zweite Partie.

Die Zahl der VAR-Eingriffe (29 insgesamt) ist gegenüber der Männer-WM im Verhältnis pro Spiel gestiegen. „Man hat jetzt mehr Erfahrung mit der Technologie.“ Aus Sicht des Schiedsrichters, der scharf kritisiert wird, wenn er Fehler begeht, ist die Besessenheit mit Genauigkeit verständlich. Collina: „Wenn der VAR Abseits zeigt, ist es egal, ob 20 Zentimeter oder 20 Meter, es gibt kein kleines und großes Abseits.“ Bei der Torlinientechnologie gebe es ja auch keine Beschwerden.

Nur gibt es da auch keine minutenlangen Spielunterbrechungen, keinen zerstörten Spielrhythmus, keine verunsicherten Schiedsrichterinnen und Spielerinnen, keine Lawine von Elfmetern, die tolle Spiele ruinieren. In solches Detail­dickicht wollte sich der Schiri-Boss lieber gar nicht verstricken. Es beharrte auf dem Prinzip, nicht auf Praktikabilität. Und da gab es noch eine zweite Ebene.

Kari Seitz, Senior Manager of Refereeingund auf der Veranstaltung weitgehend nur Deko, sagte am Ende: „Der Fußball wollte, dass wir akkurater werden. Die Leute akzeptieren keine groben Fehler mehr. Erst haben sie über Jahre geklagt, dass wir nicht akkurat genug sind. Jetzt sind wir zu akkurat.“ Es ist ein Totschlagargument, aber es ist korrekt. Da war die englische Journalistin, die klagte, warum die Schiedsrichterin beim Kamerun-Spiel die VAR-Hinweise ignoriert und keine Rote Karte gegeben habe.

Presse und Publikum fordern mehr Genauigkeit

Da war der afrikanische Journalist, der sich über die Elfmeter-Entscheidungen zu Ungunsten afrikanischer und südamerikanischer Teams beschwerte und Rassismus unterstellte. Noch inmitten eines höchst problematischen Perfektionsstrebens forderten Teile von Presse und Publikum weitere, höhere Genauigkeit ein. Das gegenwärtige Monster, begriff man da, ist eine gemeinsame Schöpfung. Und der VAR ist nur ein Symptom. Nach seiner Abschaffung würde wohl bei der ersten Fehlentscheidung die Wiedereinführung gefordert.

Was tut die Fifa nun mit ihrem Videobeweis? Dass man den VAR nicht ignorieren kann, da irrt Collina natürlich. Man kann schließlich auch, um ein etwas brachiales Beispiel zu benutzen, um die Herstellungsweise von Atomwaffen wissen, ohne sie einzusetzen. Technologischer Fortschritt ist keine Einbahnstraße. Für einen Fußball, wo es zunehmend auch bei den Frauen um hohe Summen geht, der sich nach Regeln und Gerechtigkeit sehnt, ließe sich das Problem aber durchaus auch mit VAR-Regelwerk lösen.

Eine Toleranzzone bei Fuß auf der Torlinie, eine Toleranzzone bei kleinem Abseits, entspanntere Handspielregeln, Akzeptanz bei kleinen Fouls im Strafraum. Irgendwann, das hat die Fifa vielleicht vergessen, waren Regeln mal dazu da, das Spiel funktionieren zu lassen, nicht um ihrer selbst willen.

Collina sah erst schlecht aus, überstand die Konferenz dann aber mühelos. „Wenn Sie zu schnell durch einen Radar fahren“, sagt er einmal angriffslustig zu einem Journalisten, „und Sie werden nicht geblitzt, weil er nicht funktioniert, aber beim nächsten Mal werden Sie geblitzt und ärgern sich. Wer liegt falsch, Sie oder der Radar?“ Der Mann wusste keine Antwort. Aber Collina hatte natürlich die falsche Frage gestellt. Die richtige wäre: Muss der Radar dauernd blitzen?

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare